Ein Schatz im Landesarchiv Schwerin - Die mecklenburgische Reimchronik des Ernst von Kirchberg

Archivalie des Monats März 2008

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Die Reimchronik des Ernst von Kirchberg

Die Reimchronik des Ernst von Kirchberg

Die Reimchronik des Ernst von Kirchberg

Unter der Signatur 1.12-1 wird im Landesarchiv Schwerin eine historische Quelle sicher wie ein Schatz verwahrt, deren Wert für die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte Mecklenburgs nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Es handelt sich um eine in einem Holzband mit rotem Leder gebundene Prunkhandschrift aus qualitativ hervorragendem Pergament. Sie umfaßt 29 achtblättrige Lagen, die insgesamt 232 Blätter ergeben. Die Blätter sind im Durchschnitt 43 mal 32 cm groß; der sich auf ihnen wiederfindende, in zwei Spalten gegliederte Schreibspiegel beträgt jedoch nur 29 zu 24 cm. Die Schrift setzt sich aus ungewöhnlich großen Minuskeln von etwa einem Zentimeter Höhe zusammen; Abkürzungen kommen außer in den 183 Kapitelüberschriften des Textes kaum vor. Der Text selbst ist in Reimen verfaßt, insgesamt mehr als 26.000. Eine Prunkhandschrift ist sie vor allem wegen ihrer bemerkenswerten Initialen und Miniaturbilder. Über den ganzen Text ist für sie Raum gelassen worden, doch sind nur die ersten 15 Bilder ausgeführt. Offenkundig wurde die Illumination als letzter Arbeitsgang bei der Anfertigung der Handschrift nicht zu Ende gebracht.

Die Rede ist von der mecklenburgischen Reimchronik des Ernst von Kirchberg, die nur in diesem einen prächtigen Exemplar auf uns gekommen ist. Kirchberg ist anscheinend im Zuge der zweiten, 1378 gefeierten Hochzeit Herzog Albrechts II. (1329–1379) mit Adelheid, Gräfin von Honstein, als Abkömmling eines thüringisch-hessischen Ministerialengeschlechts in mecklenburgische Dienste getreten. In Albrechts Auftrag verfaßte er 1378/79 die Chronik – vielleicht in Doberan. Wir wissen das, weil Kirchberg sich selbst, seinen Auftraggeber und den Beginn seines Schaffens (8. Januar 1378) in der Vorrede nennt. Auf einer der erwähnten Miniaturen ist er zusätzlich mit seinem Wappen und dem Wappenhalter abgebildet. In der Nachfolge Helmolds von Bosau will Kirchberg, wie wir in der Vorrede weiter lesen, "von alden und von jungen Wentlanden und der Herren geschicht" schreiben, eine Geschichte Mecklenburgs und seiner obotritischen Fürsten also. Neben Helmolds Slawenchronik, deren freie Übersetzung die ersten beiden Drittel der Reimchronik im Prinzip darstellen, dienten hierfür die Chronik Arnolds von Lübeck, die Sächsische Weltchronik, die Doberaner Genealogie, Urkunden aus dem fürstlichen und dem Doberaner Klosterarchiv und anscheinend auch das sog. Protocollum des Augustinus von Stargard sowie noch nicht identifizierte dänische Quellen als Vorlagen.

Reim und Metrik geben Kirchbergs historischem Ereignisbericht eine gehobene Form, die damaligen höfischen Ansprüchen gerecht wurde. Ein Zusätzliches leisten die erwähnten Miniaturen, welche der zeitgenössischen böhmischen Buchmalerei nahestehen und die engen Verbindungen offenbaren, die damals zwischen der mecklenburgischen Dynastie und dem in Böhmen, bald auch in Brandenburg regierenden luxemburgischen Kaiserhaus bestanden. Nach den ersten 17.000 Versen – mit dem Ende der Übersetzung von Helmolds Slawenchronik – ist ein deutlicher Einschnitt im Sprachgebrauch des Autors spürbar. Die Arbeitspause, die die Erschließung und Bearbeitung nun andersgearteter Quellen dem Autor auferlegten, wird hierfür als Erklärung genannt.

Warum erhielt Kirchberg den Auftrag zur Abfassung der Chronik? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns in das Mecklenburg des 14. Jahrhunderts zurückversetzen. Mit taktischem Gespür und unter Ausnutzung günstiger politisch-dynastischer Konstellationen war es Fürst Heinrich II. dem Löwen und seinen Söhnen Albrecht II. und Johann (I. von Mecklenburg-Stargard) gelungen, eine regionale Vormachtstellung im Konzert der Mächte des südlichen Ostseeraums zu erringen. Die Gewinnung der Lande Stargard (1317) und Rostock (1319/23), die Erhebung zum Herzogtum (1348), die Einverleibung der Grafschaft Schwerin (1358) und zu guter Letzt die Erringung der schwedischen Königskrone (1363/64) bildeten hierbei wesentliche Etappen. Dynastische Beziehungen zum Kaiser- und zum dänischen Königshaus untermauerten die gewonnene Position. Albrechts II. Enkel, Albrecht IV., war ein heißer Kandidat für den mit dem Tod König Waldemar Atterdags 1375 verwaisten dänischen Thron. Die Chronik diente offenbar der ideologischen Untermauerung dieser Vormachtstellung und sollte insbesondere die hervorragende Qualität des mecklenburgischen Fürstengeschlechts dokumentieren, welche dieses zu seinem Superioritätsanspruch berechtigte. Die besondere Qualität bestand in dem königlichen Ursprung des Geschlechts, den Kirchberg aufzeigt, in seiner Altehrwürdigkeit und Kontinuität sowie in der Bedeutung seines ehemaligen slawischen Großreiches. Kirchbergs scheinbar originäre Leistung ist die Ansippung der obotritischen Niklotiden des 12. Jahrhunderts an die zuvor im mecklenburgischen Raum herrschenden Nakoniden, wodurch ihm eine Rückverlängerung des Stammbaumes der Mecklenburger bis auf den zur Zeit Kaiser Ottos I. im 10. Jahrhundert herrschenden sagenhaften Slawenkönig Billug gelingt. Von ihm schreibt Kirchberg:

Du man screib nunhundirt yar / nach godes geburt und virczig gar, / alse Magnus Otto hielt daz rich / zu Rome und konig Harolt glich / des riches Thenemarken wielt, / der Wende konigrich do hielt / Byllug by den yaren / und was da nicht geboren; / in Polenen her geborin waz (...).

Die knappen Verse bringen Kirchbergs historisches Konzept von der prinzipiellen Gleichrangigkeit der Mecklenburger mit dem Kaiser (!) und dem dänischen König prägnant zum Ausdruck. Am Anfang der mecklenburgischen Fürstendynastie stand so nicht länger die Unterwerfung durch den Sachsenherzog Heinrich den Löwen, mit welcher der Verlust der Königsstellung und eine mehr oder minder erzwungene Christianisierung einhergegangen waren, sondern nun, nach Kirchberg, ein slawisches Königshaus, das sein – auch Teile Pommerns und Brandenburgs einschließendes – Umfeld beherrscht und übrigens selbst schon freiwillige Christianisierungsversuche unternommen hatte.

Offenbar war Kirchbergs Werk nur zum Gebrauch innerhalb des mecklenburgischen Fürstenhofes, nicht aber zur Verwendung als historisches Beweismittel in der Tagespolitik gedacht. Das erklärt, warum es nicht zur Legitimation diente, als es den Mecklenburgern nicht gelang, ihre Ansprüche auf den dänischen Königsthron durchzusetzen, oder als sie bald auch den schwedischen Königsthron an Margarete von Dänemark verloren. Vielleicht war die Reimchronik gar nur für die Selbstvergewisserung ihres Auftraggebers bestimmt. Wie eng Kirchbergs Werk genau mit der Person Albrechts II. verbunden war, dokumentiert die Tatsache, dass der Autor seine Arbeit am Text unvermittelt abbrach, als der Herzog 1379 verstarb. Die Reimchronik blieb damit – das deuten ja auch die fehlenden Miniaturen an – unvollendet: Sie reicht nur bis zum Tode Heinrichs II. 1329 und gelangt nicht zur wohl eigentlich beabsichtigten Verherrlichung von Albrechts II. Regierungszeit.

Die Handschrift blieb seit Albrechts Tod im Archiv der mecklenburgischen Herzöge verwahrt. Lange fristete sie dort ein Schattendasein. Erst 1745 wurde sie von Ernst Joachim von Westphalen ediert, und noch einmal rund 250 Jahre sollte es dauern, bis Christa Cordshagen und Roderich Schmidt eine Neuedition besorgten, die heutigen Ansprüchen Rechnung trägt. Ob aber die Chronik während des Mittelalters gänzlich unbeachtet blieb, wie behauptet wird, ist fraglich. Immerhin rechtfertigten die mit den Mecklenburgern verwandten Herren von Werle zu Beginn des 15. Jahrhunderts ihre Umbenennung zu Fürsten von Wenden genau mit den historischen Argumenten, die in Kirchbergs Chronik dargelegt sind. Freilich nannten sie als ihre Quellen Chroniken der Klöster Dobbertin und Neuenkamp. Fanden sich hier etwa Auszüge der Reimchronik oder Abschriften?

Ein singuläres historiographisches Werk – dies ist Kirchbergs Chronik im Rahmen der mecklenburgischen Landesgeschichte ihrer historiographisch-quellenkundlichen Bedeutung wegen. Es war in diesem Raum das erste Opus seiner Art und damit Vorläufer der späteren Arbeiten von Albert Krantz und Nikolaus Marschalk. Darüberhinaus ist es für die Erforschung der mittelhochdeutschen Literatursprache, in der es verfasst ist, von einem hohen sprachgeschichtlichen Wert, der weit über den mecklenburgischen Raum hinausgeht. All dies macht die mecklenburgische Reimchronik des Ernst von Kirchberg zu einem besonderen Schatz unter den vielen Kostbarkeiten des Schweriner Landesarchivs.

O. Auge

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