Vineta, die versunkene Metropole des Nordens auf einer Karte schwedischer Landmesser

Archivalie des Monats September 2009

Vineta auf der Matrikelkarte von Koserow und Damerow, 1693Details anzeigen
Vineta auf der Matrikelkarte von Koserow und Damerow, 1693

Vineta auf der Matrikelkarte von Koserow und Damerow, 1693

Vineta auf der Matrikelkarte von Koserow und Damerow, 1693

Vineta, das Atlantis des Nordens, die versunkene Metropole an der Odermündung, dieser Mythos zieht noch heute wie kaum ein anderer die Menschen in ihren Bann. Doch Vineta ist oder besser war mehr als ein Mythos. Wir wissen aus einer ganzen Reihe historischer Quellen von einer großen Handelsstadt an der Odermündung, größer als alle anderen bekannten Städte Europas, mit Handelsverbindungen in das entfernte Byzanz, ja sogar bis zur chinesischen Seidenstraße. Beeindruckt von diesem Handelsplatz, auf dem nichts gab, was man dort nicht erwerben konnte, zeigte sich bereits der im Auftrag des Kalifats von Cordoba den Norden Europas bereisende arabische Geograph Ibrahim Ibn Jaqub um 965, und auch er Bremer Kleriker Adam rühmt ihn um 1075 und beschreibt seine Lage. Einhundert Jahre später widmet Helmold von Bosau der Stadt Vineta in seiner Chronik ein eigenes Kapitel, doch zu diesem Zeitpunkt waren von ihr nur noch Überreste vorhanden, denn sie sei vom Dänenkönig mit einer großen Flotte angegriffen und zerstört worden. Und dann verschwindet Vineta für lange Zeit aus dem öffentlichen Bewusstsein, doch im Volksglauben, der davon ausgeht, dass die Stadt in den Fluten der Ostsee versunken sei, blieb Vineta stets lebendig.

Im 16. Jahrhundert begann dann die Suche nach der versunkenen Stadt, und es entstanden bis heute mehrere wissenschaftliche Theorien über die Lage der sagenumwobenen Metropole des Nordens. Man vermutete den einstigen Standort zunächst vor Koserow auf der Insel Usedom, dann vor dem benachbarten Damerow, und im 17. Jahrhundert gewann die Nordwestspitze der Insel Usedom mit der vorgelagerten Insel Ruden besondere Anziehungskraft. Im 19. Jahrhundert richteten sich die Blicke stärker auf das Umfeld der Stadt Wollin, wo erstmals in den 30er Jahres des 20. Jahrhunderts umfangreiche Grabungen einen außergewöhnlichen archäologischen Fundort freilegten. Das Fundmaterial mit mehr als 50.000 Einzelfunden zeugt hier von einem bedeutenden Handelsplatz, doch war es Vineta? Dies verneinen jüngst zwei Berliner Forscher, die Vineta in der Nähe von Barth vermuten, und dies mit einer Veränderung des Odermündungsdeltas seit dem Jahr 1200 begründen. Wenn auch die jüngste Theorie manche offene Frage beantworten würde, so fehlen doch letztlich die schlüssigen Belege, insbesondere die archäologischen Fundstücke.

Wie sehr die versunkene Stadt im Meer die Zeitgenossen faszinierte, belegt eine Karte der schwedischen Landesaufnahme von Pommern, des ersten flächendeckenden Katasters eines deutschen Territoriums. Schwedische Landmesser hatten gegen Ende des 17. Jahrhunderts das im westfälischen Frieden an Schweden gefallene Vorpommern kartiert und beschrieben. Dabei entstanden mehr als 1700 kolorierte Karten, die in ihrer Genauigkeit ebenso wie in ihrer Gestaltung den Betrachter noch heute in ihren Bann schlagen. Nur in einem Fall haben die Kartographen dem Kartenbild eine schmückende Darstellung beigegeben. Es handelt sich um die Karte von Koserow und Damerow auf der Insel Usedom. Über dem Kartenbild ist eine Stadtansicht mit barocken Giebelhäusern, Stadtmauer, Tor und Burg hinzugefügt worden, die mit einem transparenten Blau übermalt wurde. Der lateinischen Beschreibung können wir entnehmen, dass es sich hierbei um die berühmte versunkene Stadt Vineta handelt. Die Schweden vermuteten also Vineta noch vor Damerow.

Die Karten und Beschreibungen der schwedischen Landesaufnahme sind wohl die herausragenden Archivalien des Landesarchivs Greifswald. Kaum ein Bestand wird intensiver und häufiger benutzt. In Greifswald werden 1455 der mehr als 1700 Karten und 70 der 74 Beschreibungsbände des ältesten flächendeckenden Katasters verwahrt. Sie sind das Produkt einer Landesvermessung, die der schwedische König Karl XII um 1690 anordnete, um die Steuererhebung in dem im Westfälischen Frieden an Pommern gefallenen westlichen Teil des alten Herzogtums neu zu ordnen. Zwischen 1692 und 1709 bereisten acht Landmesser Vorpommern, befragten die ortsansässige Bevölkerung zu Besitzverhältnissen, Bodenqualitäten, zur Bewirtschaftung sowie zur Ertragslage und fertigten von jeder Gemarkung trigonometrische Vermessungen an. In den Wintermonaten wurden die Notizen in Folianten übertragen und die Karten gezeichnet. Neben dem ländlichen Raum nahmen die Landmesser auch die pommerschen Städte auf, beschrieben die einzelnen Häuser, in einigen Fällen bis hin zur Form der Ofenkacheln. So entstand über das schwedische Pommern eine Landesbeschreibung, die heute Einblicke in die damaligen Siedlungs- und Wohnverhältnisse, die in den Städten ansässigen Gewerbegruppen und ihre soziale Stellung sowie die baugeschichtliche Entwicklung ermöglicht.

Ihrer eigentlichen Zweckbestimmung ist die Landesbeschreibung im Grunde nie zugeführt worden. Als Grundlage für eine neue Steuerbemessung konnten sie weder Karl XII. noch seine Nachfolger auf dem schwedischen Thron durchsetzen, denn hierzu war die Zustimmung der pommerschen Landstände erforderlich. Sie wehrten sich erfolgreich, denn vor allem der die Landstände dominierende Adel befürchtete eine deutliche höhere finanzielle Belastung und widersetzte sich bis zum Ende der Schwedenherrschaft in Pommern dem Ansinnen der schwedischen Regierung. Als im nordischen Krieg 1713 Brandenburg-Preußen den Südosten Schwedisch-Pommerns besetzte, stieß es in Stettin die Beschreibungen und Karten der Landesaufnahme. In dem ihrer Verwaltung unterstehenden Landesteil setzten die Brandenburger schließlich die schwedische Landesaufnahme als Steuergrundlage durch. Vermutlich bildeten die schwedischen Beschreibungen auch die Vorlage einer brandenburgischen Aufnahme, die zwischen 1717 und 1719 in dem seit 1648 zu Brandenburg gehörenden Hinterpommern durchgeführt wurde. Diese Hufenklassifikation erfasste jedoch nur die Domänen und nicht den gesamten ländlichen Raum und beschränkte sich auf schriftliche Verzeichnisse ohne Vermessungskarten. Als 1815 das gesamte Pommern als preußische Provinz wieder vereinigt wurde, hatte die Landesbeschreibung endgültig ausgedient, die Karten und Beschreibungsbände verschwanden auf dem Dachboden und gerieten in Vergessenheit. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Greifswalder Geograph Carl Drolshagen diese Landesmatrikel auf dem Boden des Stralsunder Regierungsgebäudes wiederentdeckt und seinen Fund publiziert. Das zuständige Provinzialarchiv in Stettin übernahm die Unterlagen, und nach den Auslagerungen während des Zweiten Weltkrieges gelangten sie schließlich in die Bestände des Landesarchivs Greifswald. Seit einigen Jahren können die Beschreibungen und Karten auch im Internet eingesehen werden.

Dr. Martin Schoebel, Landesarchiv Greifswald

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Vineta, die versunkene Metropole des Nordens auf einer Karte schwedischer Landmesser