Der lange Weg zum Wiederaufbau von St. Marien in Neubrandenburg
Archivalie des Monats November 2008
Als am Ende des Zweiten Weltkrieges, am 29. und 30. April 1945 über 80 Prozent der Innenstadt von Neubrandenburg einem Großfeuer zum Opfer fiel, befand sich darunter auch ein Spitzenobjekt mecklenburgischer Backsteinarchitektur, die Marienkirche. Besonders makaber ist, dass die Marienkirche durch gezielten Beschuss einer SS-Einheit kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee in Brand gesetzt wurde, vermutlich, weil am Turm weithin sichtbar die weiße Fahne als Symbol für die kampflose Übergabe der Stadt wehte.
Der fast 24 Stunden wütende Brand zerstörte nahezu die gesamte Innenausstattung, während die Gebäudehülle keine größeren Schäden erlitt, sodass schon bald nach dem Ende des Krieges von Kirchenkreisen und Teilen der Bevölkerung der Wiederaufbau thematisiert wurde. Die Bedingungen hierfür verschlechterten sich hierfür jedoch angesichts der enormen Kriegsschäden und auch mit dem grundlegenden Gesellschaftswandel in der Sowjetischen Besatzungszone drastisch. Die Ideologie rückte erneut in das Zentrum der Politik und der Atheismus wurde Grundlage für die Ausgestaltung der Beziehungen der Herrschenden zu Kirche und Religion zumal die Beseitigung der Kriegsfolgen bei der Beschaffung von Wohnraum und Wiederaufbau der Wirtschaft oberste Priorität hatten.
Die Kirchenleitungen von Schwerin und Berlin-Brandenburg blieben hartnäckig und stellten seit 1956 wiederholt Anträge für den Wiederaufbau an die SED-Bezirksleitung und die staatliche Leitung. Somit war auch die Parteiführung des Bezirkes Neubrandenburg veranlasst, über Möglichkeiten des Wiederaufbaus der Kirche und deren Nutzung zu diskutieren. Einer Wiederrichtung als Gotteshaus stand man äußerst skeptisch gegenüber, auch weil der Grad der Zerstörung immens, die Kosten enorm und ein echter Bedarf nach Auffassung der Bezirksleitung auch nicht gegeben war. Variante zwei war der Abriss der Ruine. Allerdings fürchtete man Proteste aus der Bevölkerung, der Kirchenführung und aus dem Ausland. Dagegen stand auch die Aufnahme der Marienkirche in die Denkmalliste der DDR. Letztlich war höchstwahrscheinlich die Befürwortung des Wiederaufbaus durch das Ministerium für Kultur und das Institut für Denkmalpflege entscheidend für deren Erhalt.
Die erste offizielle Vereinbarung mit dem Rat des Bezirkes vom 30.10.1956 beinhaltete die Projektierung und Wiederherstellung des Dachstuhls zur Sicherung des Ostgiebels. Weiterhin wurde in einer Besprechung bei der Deutschen Bauakademie eine völlige Rekonstruktion im Innern der Kirche festgelegt. Die Beantragung der erforderlichen Lizenzen war für 1958 vorgesehen und wurde in einem Wert von 150 TDM erteilt. Mit dem Bau selbst wurde trotz konkreter Auftragserteilung an eine Berliner Baufirma allerdings nicht begonnen. Als Begründung hierfür wurde dem Landessuperintendenten mitgeteilt, "dass vorwiegend volkswirtschaftlich notwendigere Bauten fertiggestellt werden müssen". Gutachten begründeten aus historischer und denkmalpflegerischer Sicht den Wiederaufbau der Marienkirche. Bei der SED-Führung und der staatlichen Leitung des Bezirkes gab es zu der Zeit indes noch kein abschließendes Urteil darüber, ob und wann überhaupt mit dem Bau begonnen oder die Ruine abgetragen werden soll. In einer Sekretariatssitzung der SED Bezirksleitung vom 15. Juni 1966 kommt es dann zur Festlegung über das vorläufige Ende aller Bemühungen um den Wiederaufbau mit dem Beschluss: "Der Neuaufbau der St. Marien-Kirche in Neubrandenburg wird abgelehnt" und "das Sekretariat der Bezirksleitung ist für den Abriss der St. Marien-Kirche in Neubrandenburg."
Geballter Protest aus der Bevölkerung und der Kirchenleitung beim ZK der SED und Walter Ulbricht persönlich erreichten, dass der Rat des Bezirkes eine Vorlage für das Sekretariat der SED-Bezirksleitung einzureichen hatte über den Ausbau der Marienkirche zur Konzerthalle und Kunstgalerie. Ein Jahr zuvor verkaufte die Kirchgemeinde Grundstück und Ruine an den Staat. Damit verzichtete sie auf die Wiedererrichtung als Gotteshaus, was aus eigener Kraft wahrscheinlich ohnehin unmöglich gewesen wäre.
Das Bauvorhaben wurde nun eingeordnet in den politischen Fahrplan des Bezirkes und sah den Ausbau der Marienkirche als "wesentliche Voraussetzung für die Durchführung der Arbeiterfestspiele 1982 im Bezirk". Bis zu diesem Zeitpunkt war der Ausbau und die originalgetreue Restaurierung der überlieferten gewölbten Räume im Turmbereich sowie der Halle einschließlich Dachgeschoss bei größtmöglicher Wahrung der historischen Untergliederung mit modernen Mitteln so vielseitig auszubauen, dass sie der künftigen Funktion der Philharmonie und der Kunstsammlung voll gerecht wird. Für den Konzertsaal war eine Kapazität von 650 Besucherplätzen vorgesehen.
Das Institut für Denkmalpflege der DDR nahm maßgeblichen Einfluss darauf, dass grundsätzlich "das Außenbauwerk originalgetreu (Stand vor Zerstörung 1945 einschließlich der 1840 von Buttel ergänzten Architekturteile) nach Befunden am Bauwerk, Archivfotos, Archivmessbildern und dergl. zu restaurieren" ist. Allerdings wurde aus bezirklicher Sicht wiederholt versucht, Abstriche an der Originalität der Wiederherstellung zu machen. So wurde bei der Turmbekrönung der höher aufragende Helm gegenüber dem "Haus der Kultur und Bildung" erst nach massivem Druck des Kulturministeriums realisiert.
Erheblich größere Probleme als die Wiederherstellung der äußeren Hülle machte die funktionale Errichtung des Inneren in der doppelten Aufgabenstellung von Philharmonie und Kunstsammlung. Es fehlte das Raumangebot in der Kirche und vor allem auch die Räumlichkeiten, die eine öffentliche Nutzung erfordern. Eine Bebauung des Platzes an der Kirche wurde vorgesehen, aber die unterschiedlichen Konzepte lösten schwere Differenzen zwischen den Institutionen aus. Auch die finanziellen Anforderungen wurden zunehmend für Neubrandenburg und den Bezirk untragbar. Das Sekretariat der Bezirksleitung war laut Führungsanspruch der Partei für eine Lösung verantwortlich, jedoch mit der Aufgabe überfordert.
Die politische Wende von 1989 nahm der SED, den staatlichen Institutionen und Gutachtern die Verantwortung aus der Hand. Der Wiederaufbau der Marienkirche kam zum Stillstand und neue Konzepte unter neuer Regie wurden erarbeitet. Auf eine Kunstgalerie mit dem Bau der Nebengebäude wurde verzichtet. Der finnische Architekt Pekka Salminen gewann den 1996 ausgeschriebenen Wettbewerb für den endgültigen Wiederaufbau der Marienkirche als Konzerthalle. Hervorragende Künstler erfreuen nun die Besucher Mecklenburg-Vorpommerns und aus ganz Deutschland mit ihren Konzerten und der außergewöhnliche Klang macht St. Marien zu einem wahren Kunsttempel.
Dr. Klaus Schwabe