Aus dem Tagebuch einer Hebamme

Archivalie des Monats Mai 2012

Rep. 38 b Flatow Nr. 833 (1) Landesarchiv GreifswaldDetails anzeigen
Rep. 38 b Flatow Nr. 833 (1) Landesarchiv Greifswald

Rep. 38 b Flatow Nr. 833 (1) Landesarchiv Greifswald

Rep. 38 b Flatow Nr. 833 (1) Landesarchiv Greifswald

In den deutschen Bestsellerlisten der letzten Jahre findet man immer wieder historische Romane deren Hauptperson eine Hebamme ist. Dass für die Schilderung eines derart beschwerlichen, verantwortungsvollen und ungewöhnlichen Lebens einer Hebamme vor Jahrhunderten eine echte Person Vorbild gewesen sein könnte, ist kaum vorstellbar. Und doch findet man eine solche Frau in einem Tagebuch, dass im Landesarchiv Greifswald, unter der Signatur Rep. 38 b Flatow Nr. 833, verwahrt wird. Ihren Namen hat sie im Tagebuch nicht vermerkt. Eine andere Akte der Stadtverwaltung Flatow verrät ihn: Catharina Elisabeth Gerber. Sie hat von 1781 bis 1810 ein Tagebuch geführt welches deutlich macht, dass eine Hebamme auch noch Ende des 18. Jahrhunderts keinem leichten Broterwerb nachging. Sie musste zu jeder Jahreszeit und Witterung ohne moderne Verkehrsmittel mobil sein. Trotz schlechter hygienischer Verhältnisse und selten vorhandener ärztlicher Hilfe, hatte sie verantwortungsbewusst mit der Gebärenden und dem Kind umzugehen, im Notfall die richtigen Entscheidungen zu treffen und musste in kritischen Situationen medizinisch korrekt und schnell handeln, um Leben zu retten. Trotz aller Verantwortung und ihrer bedeutsamen Tätigkeit lebte sie in bescheidenen, wenn nicht ärmlichen Verhältnissen.

Catharina Elisabeth Gerber hielt auf der ersten Seite ihres Tagebuches fest, dass sie im Februar 1781 in der Charité Berlin Entbindungen vornahm. In der Charité entstand 1751 die erste deutsche Hebammenschule, die im 18. Jahrhundert als eine der berühmtesten in Europa galt. Es könnte angenommen werden, dass Catharina Elisabeth dort ihre Ausbildung zur Hebamme erhielt.

Man begleitet als Leser des Tagebuchs Catharina Elisabeth Gerber 29 Jahre ihres Lebens. Dabei liest man Berichte von unkomplizierten und komplizierten Geburten, aber leider auch tragische Berichte über Geburten mit tödlichem Ausgang für Mutter und Kind. Darüber hinaus hält die Hebamme Alltägliches und Persönliches fest. Sie erstellt Statistiken über die "gehobenen" Kinder, nach Christen und Juden getrennt. Es gibt im Tagebuch keine Notizen über die geleistete Wochenbett und Säuglingspflege. Vermutlich stand die Dokumentation der Geburt, zur rechtlichen Absicherung der Hebamme im Vordergrund. Sie hält darüber hinaus verschiedenste Informationen fest: was kostete eine Taufe in Abhängigkeit der Anzahl der Gevattern , wann gab es in der Stadt einen Brand, wie viel Geld hat sie für Brot und Milch ausgegeben, welche Vornamen gefielen ihr etc. Das Hebammenbuch könnte unter anderem auch für Genealogen mit deutschen oder jüdischen Vorfahren von Interesse sein. Es sind teilweise recht ausführliche Einträge zu Mutter und Kind vermerkt:

Mittwoch den 7 Junii frü um 8 uhr habe die Jüdische Frau Meyeren den Furmann Itzszigs Tochter glücklich mit einem Sohn nebst nachgeburt entbunden Die Mutter heißt Ester.

Oft gibt Catharina Elisabeth nur den Nachnamen der Mutter an, aber immer werden das Datum der Geburt und das Geschlecht des Kindes vermerkt:

Mittwoch den 16 October habe die Frau Kleman am See abends um 8 uhr glücklich und gesund mit einem Sohn nebst nachgeburt entbunden die Wehen traten an nachmittag um 4 uhr und die Geburt endigte sich abends um 8 uhr.

Im Mai 1781 ging Catharina Elisabeth von Berlin nach Müllrose und arbeitete dort als Hebamme. Im 23. Juni 1784 ist sie "nach Frankfort gekommen" und für den 12. Oktober vermerkt sie den Einzug in ihr "Losement", was Wohnung oder Zimmer bedeutet. In Frankfurt/ Oder notiert sie von September 1784 bis April 1785 die Geburt von 8 Kindern. Diese Zahlen lassen vermuten, dass Catharina Elisabeth noch von anderen Einkünften als nur ihrer Hebammentätigkeit gelebt haben muss.

Catharina Elisabeth Gerber war in der Lage, über die Anstellungsverträge und die finanziellen Konditionen allein zu verhandeln, die Wohnortwechsel und die neuen Unterkünfte zu organisieren:

den 22ten Julii 1785 habe mit den Jüdischen Herren Ältesten in Frankfort den Contract gerichtlich gemacht am Sonnabend abend gantz spät weil es Schabas (Anmerkung des Verfassers: Sabbat) wahr. Donnerstag den 27ten Julii aus Frankfort mittag um 11 Uhr mit der Post abgereist, Donnerstag den 4ten August bin ich nach Flato als Jüdische Hebam angekommen abends um 8 Uhr.

Für die 240 km zwischen Frankfurt/ Oder und Flatow, heute Złotów in Polen, die man heute mit einem PKW in maximal 3 Stunden fährt, brauchte Catharina Elisabeth Gerber im Jahr 1795 also eine Woche. Es war nicht schwer, eine Anstellung als examinierte Hebamme zu finden, aber angemessen bezahlen wollte sie keiner. Auch die Flatower Bürger wollten und taten dies nicht, obwohl sie Catharina Elisabeth mit einem Festgehalt nach Flatow lockten. Weil die Hebamme ihr Geld nicht auf gerichtlichem Wege einklagen wollte und sicher noch aus anderen Gründen, blieb Catharina 10 Jahre in Flatow und geriet laut Stadtpfarrer Catovius, so "in die dürftigsten Umstände". Welchen Mehrwert eine examinierte, approbierte Hebamme für ihre Frauen darstellte, schien die Männer der Bürgerschaft nicht zu interessieren. Nur der Pastor Catovius erkannte, dass es um das Gemeinwohl ging und beklagte, dass "im Umkreis mehrerer Meilen weder eine Hebamme noch einen Doctor leicht zu haben ist".

Catharina Elisabeth Gerber hatte, trotz der schlechten Bezahlung, durch ihren Beruf die Möglichkeit, selbständig und unabhängig von einem Mann zu leben. Sie ist, wie aus anderen Quellen hervorgeht, zumindest im Jahr 1795, Witwe und erwähnt an einer Stelle in ihrem Tagebuch eine Tochter. Sie spricht in ihren Aufzeichnungen ausschließlich für sich als Einzelperson, nie von "uns". Es ist davon auszugehen, dass sie auch schon vor 1795 allein lebte und reiste, ohne ihre Tochter. Mit einem Gedicht welches sie in ihrem Tagebuch festhält zeigt sie wie selbstbewusst und emanzipiert sie war, aber auch, dass sie Humor besaß:

So gleich und gleich gesellet sich
for strenge Herrn bedank ich mich
die immer brummen schmehlen
und ihrer Frau befehlen
ich tähndle lache schäcker gern
und danke für die stränge Herrn
für ihm würd ich auf Erden
vielleicht ein Plagholtz werden
und er als Herr und Mann
er würde mein Tirrann
warhaftig er ist nicht for mich
so: gleich und gleich gesellet sich.
for strenge Herrn bedank ich mich.

Auch reflektierte sie wahrscheinlich die eigene Position als Frau: sie hatte nicht viel zu sagen, ihre Arbeit wurde nicht geachtet, Versprechen wurden gebrochen, obwohl sie als Hebamme für die Gesundheit und das Leben der Frauen und Kinder sorgte.

Ob Catharina Elisabeth, als jüdische Hebamme in Frankfurt/ O. angeworben, selbst Jüdin war, konnte nicht endgültig geklärt werden. Sie entband Kinder von Juden und Christen. Klar ist, dass der Name Gerber in Flatow auch ein jüdischer Name war. Ganz erstaunlich ist, dass Catharina Elisabeth in ihrem Tagebuch auf mehreren Seiten die Geschichte von dem Schuhmacher Ahasverus, dem so genannten "ewigen Juden", festhält. Der Ewige Jude ist eine Figur aus christlichen Legenden des 13. Jahrhunderts. Dieser Mensch soll von Jesus von Nazareth dazu verdammt worden sein, bis zur Wiederkehr des jüngsten Gerichts unsterblich durch die Welt wandern zu müssen, weil er Jesus auf dem Kreuzweg verspottete und ihm eine kurze Rast an seiner Haustür verweigerte. Ihre tiefe Gläubigkeit lässt sie im ganzen Tagebuch durch die ständigen Danksagungen an Gottes Hilfe und Bitten an Gott erkennen.

Nachdem man die Hebamme durch fast 30 Jahre ihres Berufs- und Privatlebens durch ihr Tagebuch begleitet hat, findet man auf der letzten Seite nur einen Satz: "1810 den 26ten Januarii freytag frü um 11 Uhr habe den unglücklichen Fall gethan." Weitere Recherchen in den im Landesarchiv Greifswald vorliegenden Akten zu dem Schicksal der Hebamme und zu dem "Fall" den sie tat ergaben, dass Catharina Elisabeth Gerber in Ausübung ihres Amtes schwer stürzte und in völliger Abhängigkeit von fremder Hilfe und in schlimmsten Verhältnissen lebte. Es kann in einer Akte der Stadtverwaltung Flatow nachgelesen werden, wie unwillig die Magistratsmitglieder nach mehrmaliger Aufforderung Geld sammelten um Catharina Elisabeth zu unterstützen. Wann sie verstorben ist und wie alt sie wurde lässt sich aufgrund fehlender evangelischer Kirchenbücher und jüdischer Personenstandregister von Flatow nicht mehr nachvollziehen.

Kirsten Schäffner, Landesarchiv Greifswald

Archivalie des Monats Mai 2012

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