Du bist, wo du in der Kirche sitzt

Archivalie des Monats Februar 2011

Kirche in GranzinDetails anzeigen
Kirche in Granzin

Kirche in Granzin

Kirche in Granzin

Wenn es nicht gerade Weihnachten ist, muss sich unter Kirchgängern selten jemand Gedanken darüber machen, wo er in der Kirche sitzen wird. Das hat zwei Gründe: die Kirchen bieten bei gewöhnlichen Gottesdiensten meistens viel mehr Platz als nötig, und: die Besucher können sich fast überall hinsetzen, wo sie wollen und brauchen keine Sitzordnung zu beachten.

Dem ist nicht immer so gewesen. Während mittelalterliche Pfarrkirchen kaum oder keine Sitzgelegenheiten kannten, verbreitete sich in den Jahrzehnten der Reformation auch in Mecklenburg das allgemeine Sitzen während der Gottesdienste. Vornehmlicher Grund dafür ist der evangelische Predigtgottesdienst. Nun ist es nicht so, dass diese Form im 16. Jahrhundert ganz neu erfunden worden wäre, aber das Hören der Predigt wird nach reformatorischem Verständnis zum wichtigsten Teil des Gottesdienstes, während das Abendmahl zwar als Sakrament erhalten bleibt, aber von den meisten nur noch wenig mehr als zwei Mal im Jahr genommen wird.

Das bedeutete ins Praktische gewendet, dass die Tischler in den Kirchen Sitzplätze für die Gottesdienstbesucher anzufertigen hatten. Auf diese Weise hielt die für heutige Bedürfnisse mitunter recht unbequeme Kirchenbank oder der Kirchenstuhl, wie sie in den Quellen auch genannt wird, flächendeckend Einzug.

Dabei konnte den Menschen, die ihre gesellschaftliche Ordnung bis weit ins 19. Jahrhundert auf Geburtsstand und Privilegien aufbauten, der Ort ihres Sitzplatzes natürlich nicht gleichgültig sein. Es machte einen großen Unterschied, ob man im wichtigsten gesellschaftlichen Kommunikationsraum der Vormoderne vorne oder hinten, oben oder unten sitzen sollte. Das wusste auch der mecklenburgische Landesherr, der sich nicht umsonst als Oberbischof das "Jus subselliorum" in allen Kirchen vorbehielt. Niemand kam in der Kirchenstuhl-Frage an ihm und seinen Beamten vorbei, selbst der Adel als Kirchenpatron nicht.

Dass die Menschen ihre Kirchenstühle sehr wichtig genommen haben, lässt sich auch an der reichen Quellenüberlieferung in den Archiven ablesen. Neben Gerichtsakten, die die Umstände zahlreicher, oft durch Spucken und Fluchen verschärfter Streitfälle aufhellen, sind es bei Kirchenum- und Neubauten entstandene Verwaltungsakten, die sogar Material zu Gotteshäusern bereit halten, die es heute nicht mehr gibt. So etwa die Federzeichnung eines Kirchenstuhlplans für die Kirche in Granzin bei Boizenburg vom Jahr 1694.

Neben den liturgisch wichtigen Ausstattungsstücken Beichtstuhl, Kanzel, Taufstein und Altar gehörten auch hier die Kirchenbänke längst zum festen Inventar der Kirche. Rechts neben dem Altar stand der Beichtstuhl, links hatte der beim Gottesdienst für den Gesang verantwortliche Küster mit Familie seinen Platz. Hinter dem Beichtstuhl saß die vormoderne Gemeindeleitung, die heute als Kirchenälteste bezeichneten Kirchenjuraten. Hinter ihnen hatten die Verwalter der Höfe Nieklitz und Greven und der Müller von der Schildmühle ihre Stühle, auf der anderen Seite entsprechend deren Frauen. Hofverwalter und Pächter waren damals bedeutende Leute, nicht nur, weil viele von ihnen als wohlhabend galten, sondern vor allem, weil sie Herrschaftsrechte über die Untertanen ausübten.

In Granzin war der Herzog zwar Patron, aber der eingepfarrte adlige Tüschower Gutsbesitzer von Scheiter besaß immerhin ein Chor (eine Empore), auf der er über den Köpfen der Gemeinde am Gottesdienst teilnehmen konnte. Im Kirchenschiff war das Gestühl unter den Dörfern Granzin, Barnin und Gallin dreigeteilt, und immer sitzen die Frauen vorne. Hier hatten die örtlichen Gegebenheiten dafür gesorgt, dass die übliche Gliederung in Männer rechts (der traditionell "besseren" Seite) und in Frauen links aufgehoben ist. Auf die große Empore gingen "junge Leute", womit hier wohl diejenigen unverheirateten Dorfbewohner gemeint sind, die als Knechte, Mägde oder Dienerschaft einem Dienstherren verpflichtet waren.

Ungewöhnlich nach heutigem Verständnis ist, dass viele, die nicht über Grundbesitz am Unterhalt der Kirche beteiligt waren, ihre Kirchenstühle mieten mussten. Für die Kirche war das ein unverzichtbarer Einnahmeposten, wenn es um die Bauerhaltung ging. Wer sich die Miete nicht leisten konnte oder wollte, musste stehen oder bei anderen um Einlass bitten.

Obgleich Kirchenstuhlpläne immer nur Momentaufnahmen waren und die soziale Ordnung selten dauerhaft festschreiben konnten, ist die Ungleichheit nach Stand und Geburt doch grundlegend für sie gewesen. Das große Wort des Apostels Paulus, dass es vor Gott kein Ansehen der Person gebe, ist vom 16. bis weit ins 19. Jahrhundert bei der kirchlichen Sitzordnung wenig bis gar nicht zur Geltung gekommen. Man kann das der Kirche zum Vorwurf machen, sollte aber die zeitgebunden Möglichkeiten der Kirchenunterhaltung beachten und auch jene sozialen Schichtungen bedenken, die heute unser Leben bestimmen.

Dr. René Wiese


Quelle

LHAS 2.22-10/1 Domanialamt Boizenburg 121 g 23

Archivalie des Monats Februar 2011

Du bist, wo du in der Kirche sitzt