"Tiefpflügen" in der Eisenzeit? Brunnen mit hölzerner Pflugschar aus Kasselvitz, Insel Rügen

Fund des Monats Dezember 2014

Kasselvitz 10, Lkr. Vorpommern-Rügen. Erste Spuren im PlanumDetails anzeigen
Kasselvitz 10, Lkr. Vorpommern-Rügen. Erste Spuren im Planum

Abb. 1: Kasselvitz 10, Lkr. Vorpommern-Rügen. Erste Spuren im Planum

Abb. 1: Kasselvitz 10, Lkr. Vorpommern-Rügen. Erste Spuren im Planum

Änderungen in der Trassenführung der Bundesstraße B 96n auf Rügen betrafen auch den Fundplatz Kasselvitz 10 (Lkr. Vorpommern-Rügen), auf dem bei einer Hauptuntersuchung im Frühjahr 2013 auf einer Fläche von etwa 100 x 50 m Reste eines Siedlungsareals der jüngeren vorrömischen Eisenzeit aufgedeckt wurden. Diese umfassten fünf Siedlungsgruben, drei Feuerstellen, zwei Brunnen und eine Pfostengrube. Die Datierung des Fundplatzes in die jüngere vorrömische Eisenzeit basiert auf Keramikfunden der Stufe IIa nach H. Keiling (älterer Abschnitt der jüngeren vorrömischen Eisenzeit)(1) aus einer Siedlungsgrube.

Zwei Brunnenbefunde

Die aus wissenschaftlicher Sicht bedeutendsten Befunde sind zwei Brunnen, die sich am Rand einer eingeebneten, ehemals vernässten Senke mit stark humosem, dunkelbraun bis schwarz gefärbtem Sediment als annähernd runde Verfärbungen mit Durchmessern von 2,4 m und 2,6 m im Planum abzeichneten (Abb. 1). Die trichterförmigen Profile hatten Resttiefen von 0,76 m und 1,86 m. Reste von Holzeinbauten waren nicht erhalten. Vor allem aus den unteren Befunddritteln der Brunnen wurden Tierknochen von Rindern und Schafen beziehungsweise Ziegen geborgen, die möglicherweise als Reste von Opferhandlungen zu deuten sind. Im Sohlbereich von Befund 16 kamen außerdem drei Holzobjekte zutage. Dabei handelt es sich um zwei grob angespitzte, ansonsten aber unbearbeitete Staken (Länge 73,0 cm und 73,4  cm; Durchmesser 5,5–7,0  cm; einer entrindet) sowie ein Gerät, das sich als Pflugschar erwies (Abb. 2 und 3). Alle Hölzer waren an der Befundsohle in das Sediment gerammt worden.

Die hölzerne Pflugschar

Die von der Sohle des Befundes 16 geborgene, vollständig erhaltene hölzerne Stielschar ist 68,8 cm lang, lanzettförmig gestaltet und aus Eichenholz gearbeitet (Abb. 4). Der Schaft zeigt nur grobe Bearbeitungsspuren. Das leicht asymmetrische, pfeilförmige Blatt hingegen weist eine durch Abnutzung entstandene Glättung auf.

Die Kasselvitzer Pflugschar lässt sich wahrscheinlich den Pflügen vom Typ Døstrup zuweisen. Die allgemein bis ins Mittelalter und vereinzelt noch bis in die Neuzeit genutzten einfachen Hakenpflüge ("Arl", "Ard" oder "Arder") bestanden aus mehreren Einzelteilen. So war der Haken zweiteilig aufgebaut, was ein einfaches Auswechseln der sich schnell abnutzenden Schar ermöglichte. Die Spitzen der Schare weisen wie das Kasselvitzer Stück einseitig meist eine stärkere Abnutzung auf, die aus einer Schrägstellung des arbeitenden Pfluges resultiert. Seine Arbeitsweise bewirkte ein seitliches Anhäufeln des aufgelockerten Erdreichs. Vermutlich gab es große Mengen derartiger Ackergeräte, denn praktische Versuche haben gezeigt, dass etwa sechs Stielschare für die Bearbeitung eines halben Hektar Ackerlandes benötigt wurden. Im Fundgut sind sie aufgrund der Vergänglichkeit des Materials aber ausgesprochen selten.

Für Mittel- und Nordeuropa sind recht wenige Stücke aus Holz überliefert. Diese belegen jedoch ein Vorkommen von der jüngeren Bronzezeit bis in die Slawenzeit. Pflugschare aus vorslawischer Zeit sind aus Mecklenburg Vorpommern bislang nur zweimal nachgewiesen.

Betrachtet man das Vorkommen von Pflügen und Pflugteilen im nördlichen und westlichen Europa von der Bronzezeit bis ans Ende der römischen Kaiserzeit, so fällt auf, dass das Gros der meist hölzernen Stücke aus Feuchtbodenkontexten aus dem Bereich nördlich der Mittelgebirgszone stammt. Für diese Gruppe sprechen Fundort, Fundkontext und Art der Niederlegung dafür, dass die Stücke und deren Niederlegung einen kultisch-rituellen Hintergrund hatten.

Pflugscharfunde im archäologischen Kontext

Absichtlich in Brunnen deponierte Pflugschare sind aus einem kaiserzeitlichen Befund in Berlin-Rudow und mehrfach aus den Niederlanden und Belgien bekannt. Die beste Parallele stammt jedoch aus Lindängelund (Schweden). Dort wurden in eisenzeitlichem Siedlungskontext mehrere Brunnen freigelegt, in denen – ebenso wie in Kasselvitz – eine Pflugschar und ein bearbeiteter Holzpflock eingebracht waren. Die Befunde lagen in einer vernässten Senke, die aufgrund der Holzfunde, aber auch aufgrund menschlicher Knochen und weiterer Indizien als Ort zeremonieller Handlungen gedeutet wird. Insgesamt kamen dort 14 Brunnenbefunde mit in die Brunnensohle eingerammten länglichen Holzobjekten zutage, welche zeitlich vom späten Neolithikum bis in die Wikingerzeit reichen. Die Ausgräberin A. Carlie(2) sieht darin ein in langer Kontinuität stehendes Gründungsritual, wie es auch M. Van Haasteren und M. Groot(3) für einige der niederländischen Befunde vermuten.

Brunnenopfer und Mooropferplätze

Angespitzte Pflöcke und Pflugschare werden nicht nur in Brunnen gefunden, sondern auch auf eisenzeitlichen Opferplätzen, so zum Beispiel in Frösvi (Schweden) oder in Rappendam (Dänemark). Auf dem Opferplatz von Hulje (Schweden) kamen Pflöcke in einem Brunnen zutage. Allgemein passen einige Brunnenbefunde sehr gut in das von X. P. Jensen beschriebene Schema, das die südskandinavischen Opferplätze der vorrömischen Eisenzeit mit "nicht-militärischen" Deponierungen aufweisen.(4)

Fazit

Die Vergleichsfunde zeigen, dass auch anderenorts und während unterschiedlicher Epochen der Brauch bestand, bei der Anlage eines Brunnens längliche Holzobjekte in die Sohle oder die Baugrube einzubringen. Ein praktischer Nutzen dieser Objekte erschließt sich bislang nicht, was die Vermutung nahelegt, dass es sich dabei um Hinweise auf Handlungen rituellen Charakters handelt. Gemeinsam ist vielen der eingebrachten Geräte, dass sie in ihrer ursprünglichen Funktion mit Eingriffen in den Boden zusammenhängen, denn es handelt sich in der Regel um Pflanzstöcke, Pflugschare, Spaten oder einfach nur angespitzte Pflöcke. Sie lassen sich demzufolge möglicherweise mit Gründungs- und Fruchtbarkeitsriten, rituellem Pflügen oder Opferfesten in Verbindung bringen.

Dirk Röttinger M. A.


Anmerkungen

(1) H. Keiling, Die vorrömische Eisenzeit im Elde-Karthane-Gebiet. Kreis Perleberg und Kreis Ludwigslust. – Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte der Bezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg 3. Schwerin.

(2) A. Carlie, Archaeology and ritual: A case study on traces of ritualisation in archaeological remains from Lindängelund, Southern Sweden. – Folklore 55, 49–68.

(3) M. Van Haasteren/M. Groot, The biography of wells: a functional and ritual life history. – Journal of Archaeology in the Low Countries 5/1, 25–51.

(4) X. P. Jensen, From fertility rituals to weapon sacrifices – The case of the south Scandinavian bog finds. In: U. von Freeden/H. Friesinger/E. Wamers (Hrsg.), Glaube, Kult und Herrschaft. Phänomene des Religiösen im 1. Jahrtausend n. Chr. in Mittel- und Nordeuropa. Akten des 59. Internationalen Sachsensymposions und der Grundprobleme der frühgeschichtlichen Entwicklung im Mitteldonauraum. – Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte 12, 53–66. Bonn.

Fund des Monats Dezember 2014

„Tiefpflügen“ in der Eisenzeit? Brunnen mit hölzerner Pflugschar aus Kasselvitz, Insel Rügen