Zu fein, um alt zu sein? - Das Fragment einer Hand mit Trinkhorn aus Groß Strömkendorf, Lkr. Nordwestmecklenburg

Fund des Monats April 2016

Groß Strömkendorf, Lkr. Nordwestmecklenburg. Nur 1,1 cm Höhe misst das kleine Trinkhorn in der zierlich gestalteten Hand.Details anzeigen
Groß Strömkendorf, Lkr. Nordwestmecklenburg. Nur 1,1 cm Höhe misst das kleine Trinkhorn in der zierlich gestalteten Hand.

Abb. 1 Groß Strömkendorf, Lkr. Nordwestmecklenburg. Nur 1,1 cm Höhe misst das kleine Trinkhorn in der zierlich gestalteten Hand.

Abb. 1 Groß Strömkendorf, Lkr. Nordwestmecklenburg. Nur 1,1 cm Höhe misst das kleine Trinkhorn in der zierlich gestalteten Hand.

Es sind nicht immer die großen Funde, die Aufmerksamkeit verdienen. Manchmal sind es auch sehr kleine Objekte, die das Herz des Finders und der Archäologen höher schlagen lassen. Im Oktober 2013 führte der ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger Mirko Renkewitz (Dönkendorf) im Bereich des frühmittelalterlichen Seehandelsplatzes Groß Strömkendorf (Fpl. 3) systematische Detektorbegehungen durch. Er stieß dabei auf ein fein gestaltetes Objekt aus Metall: Ein Fragment einer linken Hand, die ein Trinkhorn hält und deren Handgelenk ein Armreif schmückt (Abb. 1). Die bemerkenswert naturgetreu und fein ausgeführte Kleinplastik aus Silber oder Zinnbronze (eine Materialanalyse steht noch aus) misst nur maximal 1,5 cm Länge und gehörte offenbar ursprünglich zu einer komplexeren Figur, wie der abgebrochene Arm andeutet.

Grundsätzlich ist natürlich auf Fundplätzen des Frühmittelalters mit qualitätvollen Metallobjekten zu rechnen, doch dieser Fund machte nicht nur den Finder, sondern auch die Archäologen stutzig. War eine Datierung in die Slawen- bzw. Wikingerzeit, auch wegen der feinen Gestaltung, überhaupt anzunehmen? Sollte mit dem Trinkhorn vielleicht nur zufällig ein typisches Attribut der Germanen- und Wikingerzeit vorliegen? Und war es vielleicht doch deutlich jünger als der frühmittelalterliche Handelsplatz?

Der Fundplatz Groß Strömkendorf ist im Rahmen eines von der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) geförderten großen interdisziplinären Forschungsprojektes bis in die späten 1990er Jahre großflächig archäologisch untersucht worden. Die Grabungsergebnisse von Hafenanlage, Siedlung und Gräberfeld sind inzwischen weitgehend publiziert1. Es ergibt sich daraus das Bild einer zwar kleinen, aber florierenden Handels- und Handwerkersiedlung mit stark skandinavisch / westeuropäisch geprägtem Kulturhabitus. Auch die Identifizierung und Gleichsetzung mit dem in karolingischen Quellen für das Jahr 808 erstmals genannten Emporium "Reric“ scheint gesichert. Sein Ende findet der Platz offenbar in Folge eines Konfliktes zwischen dem Dänenkönig Göttrik und dem slawischen Fürsten Drasco. Mit der Umsiedlung der Bewohner nach Haithabu in den unmittelbaren Machtbereich des Dänenkönigs endet die Siedlung im frühesten 9. Jahrhundert. Da bei den archäologischen Grabungsarbeiten systematische Detektorbegehungen noch nicht durchgeführt wurden, wird dies seit einigen Jahren nun durch mehrere ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger nachgeholt. Viele bemerkenswerte und für die Beurteilung der historischen Bedeutung des Platzes wichtige Objekte, darunter z.B. viele Sceattas (Münzprägungen des 6.-8. Jh.), Gewichte und Trachtschmuck, wurden hierdurch schon gesichert2. Dazu gelang es im Laufe der letzten Jahre, die Ausdehnung des Siedlungsplatzes durch die Oberflächenfunde zu präziseren.

Doch zurück zur Hand mit dem Horn, deren Deutung dem Finder keine Ruhe ließ. Unerwartet wurde er bei seiner Suche im Internet auf der Seite des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt fündig. Dort war im Dezember 2009 als Fund des Monats durch Arnold Muhl eine auch für den mitteldeutschen Raum völlig unikate Kleinplastik aus Seehausen, Lkr. Börde vorgestellt worden (http://www.lda-lsa.de/landesmuseum_fuer_vorgeschichte/fund_des_monats/2009/dezember/). Es handelt sich um eine bronzene, männliche Figur mit Spitzbart (Abb. 2). Sie sitzt auf einem mit Streifen verzierten, tonnenförmigen Objekt (Gesamthöhe von Figur und "Fass“ nur 36 mm). Beide Arme bogenförmig vor dem Oberkörper gestreckt, hält die rechte Hand ein Horn, während die linke Hand – in gleicher Haltung – leer ist und einladend zu winken scheint. Die ringförmigen Verdickungen an den beiden Handgelenken stellen vermutlich einzelne Armringe dar. Nicht nur die formale Ähnlichkeit, sondern auch die fast auf den Millimeter identische Größe legt den Schluss nahe, dass wir mit der Hand aus Groß Strömkendorf nun das Fragment eines identischen Objektes vor uns haben. Ein Unterschied besteht allerdings in der Links- bzw. Rechtshändigkeit.

In der zwischenzeitlich vorgelegten Publikation3 wird der Fund von Seehausen ausführlich analysiert. Demnach handelt es sich um einen figürlichen Spornaufsatz, der im slawischen Kulturraum entstanden sein soll. Die beiden Autoren halten aus typologischen Erwägungen heraus eine Datierung nur allgemein in das 9. bis frühe 13. Jhd. für möglich. Unter der Annahme, es könne sich bei dem Seehauser Reiter um das Teil eines Prunksporns adliger Reiter oder Priester handeln, wird - fußend auf historischen Quellen, in denen kultische Handlungen mit heiligen Pferden bei den Westslawen beschrieben werden - aber eine jüngere Datierung (10. - 12. Jhd.) favorisiert. Allerdings zeigen die wenigen Parallelen figürlicher Aufsätze an Sporen anderer slawischer Plätze deutlich primitivere Ausführungen, so z.B. ein Spornfragment mit anthropomorphen Reliefs aus Groß Bünsdorf, Lkr. Nordwestmecklenburg. Einzuwenden wäre an dieser Stelle auch, dass die Zahl der im westslawischen Kulturraum bekannten Metallobjekte aus verlorener Form (Wachsausschmelzverfahren) und darüber hinaus im Überfangguss (die bronzene Figur wurde über einen eisernen Dorn gegossen) sehr klein ist und technologisch sehr unterschiedliche Qualitäten zeigt. Und insbesondere bei naturalistisch-vollplastischen Figuren sind Zweifel an einer slawischen Provenienz angebracht.

Die Tradition der Nutzung und besonderen Wertschätzung von Trinkhörnern - auch im Totenkult - reichen weit bis in die römische Kaiserzeit zurück. Trinkhörner finden sich als Beigabe regelmäßig in reich ausgestatten Gräbern der Germania Libera. Ebenfalls als Grabbeigaben finden wir Trinkhörner später bei Slawen und Wikingern. Eine besondere Rolle spielte das Trinkhorn in der nordischen Mythologie als Attribut der Walküren. Zahlreiche Amulette und Bildsteine zeigen den Begrüßungsritus der toten Reiter oder Kriegerhelden bei ihrer Ankunft in Walhalla. Auch einigen slawischen Göttern ist das Horn als Attribut zuzuordnen, wie z.B. dem Gott Svantevit. Zeitgenössische Schriftquellen belegen darüber hinaus die Nutzung von Trinkhörnen bei religiösen Handlungen und Weissagungen westslawischer Stämme im 11. und 12. Jahrhundert. Ob es sich bei der einzigen aus Mecklenburg und Vorpommern bekannten bildlichen Horndarstellung4, dem sogenannten "Svantevit“- Stein in der Kirche von Altenkirchen auf Rügen, nun um ein Trink- oder doch ein Signalhorn handelt, lässt sich allerdings nicht sicher entscheiden.

Nicht unbeachtet bleiben sollte bei der Frage nach dem Herstellungsort bzw. dem Hersteller der Umstand, dass der Fundort Seehausen zum karolingisch-sächsischen Herrschaftsgebiet gehörte. Eine eigentlich slawische Bevölkerung ist erst in ca. 25 km Entfernung nachgewiesen. Der Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um eine jüngerslawische Arbeit handelt, wird auch durch den Neufund aus Groß Strömkendorf genährt, da hier die Fundüberlieferung im frühen 9. Jahrhundert wegen Verlagerung des Handelsplatzes nach Haithabu abbricht und trotz unzähliger Begehungen mit Fundaufsammlung deutlich jüngere slawische Objekte fehlen. Und schließlich stellt auch ein Neufund aus Cotes/Charnwood, Leicestershire (Großbritannien)5, der erst nach Veröffentlichung des Seehauser Fundes bekannt geworden ist, eine Spätdatierung wie auch die vermutete slawische Provenienz in Frage.

Dieser Spornaufsatz aus Großbritannien zeigt eine mit der Seehausener Figur identische Gestaltung (Abb. 3). Auch der in Seehausen und Groß Strömkendorf vorhandene Armreif ist dargestellt. Dass es sich tatsächlich um eine Reiterfigur handelt, wird aber durch den hier erhaltenen Pferdekopf nachgewiesen6. Dieser und die Form des Helms, den der Reiter trägt, weisen auf einen bisher unberücksichtigten Kontext. Denn Art und Weise der Gestaltung finden gute Entsprechungen in vendel- oder frühwikingerzeitlichen Reiterdarstellungen gotländischer Bildsteine7. So sind sich auf den Bildsteinen von Lillbjors, Tjängvide oder Tangelgarda Reiter (oft als Odin auf seinem Pferd Sleipnir interpretiert) in vergleichbarer formaler Ausführung abgebildet. Allerdings werden diese dort von einer Walküre mit Trinkhorn empfangen, die ihnen entgegen geht. Im skandinavischen Frühmittelalter sind üblicherweise nur die weiblichen Walküren Trägerinnen der Hörner. Eine Ausnahme bildet der Stein von Adre I (aus dem 11. Jhd.), ebenfalls auf Gotland, denn er zeigt eine männliche Person mit Trinkhorn.

Müssen wir also vielleicht den oder die geschickten Handwerker der bemerkenswerten Reitersporne auf Gotland suchen? Der Seehausener Reiter und die Figur von Cotes/Charnwood sitzen auf einem zylindrischen, mit gekreuzten Linien verzierten "Fass“, die Kreuzungspunkte sind mit Knubben verziert. Solche Verzierung ist fremd im slawischen Raum. Stattdessen finden wir sie im wikingerzeitlichen Skandinavien der Zeit um 800 und danach durchaus häufiger. Hingewiesen sei auf die entsprechenden Muster auf dem Schlitten des Oseberg-Grabes. Aber auch in der metallischen Kleinkunst, wie z.B. ovalen Schalenspangen, tritt diese Form der rhombischen Felderung regelhaft auf. Und im Kontext mit Sporengarnituren sei auf die gitterverzierten Schnallen verwiesen, deren Herkunft allgemein als karolingisch angesehen wird8.

Letztlich muss offenbleiben, ob die besprochenen aufwändigen Sporenaufsätze auf den britischen Inseln, in Skandinavien (speziell Gotland) oder gar auf kontinental-westeuropäischem Gebiet mit Kenntnis der skandinavischen Bildersprache entstanden. Formensprache, Fundumstände und die Ausführung von Details sprechen dafür, dass die Herstellung in einem früheren Zeitraum als dem 10.-12. Jhd. stattfand. Vermutlich sind sie sogar um 800 zu datieren und auch der Ort der Herstellung dürfte außerhalb des slawischen Siedlungsgebietes gelegen haben.

Dr. C. Michael Schirren


Fußnoten

1 Jüngst erschienen: Markus Gerds, Das Gräberfeld des frühmittelalterlichen Seehandelsplatzes von Groß Strömkendorf, Lkr. Nordwestmecklenburg. Michael Wolf, Groß Strömkendorf-Reric . Die Menschen und ihre Lebensumstände. Band 1-2. Frühmittelalterl. Arch. zwischen Ostsee u. Mittelmeer 6 (Wiesbaden 2015)

2 Jahrbuch Bodendenkmalpflege MV 57, 2009 (Kurze Fundberichte 465-467), Jahrbuch Bodendenkmalpflege MV 58 , 2010 (Kurze Fundberichte 352-355), Jahrbuch Bodendenkmalpflege MV 59, 2011 (Kurze Fundberichte 392-395), Jahrbuch Bodendenkmalpflege MV 60, 2012 (Kurze Fundberichte 415-416)

3 Ingo Gabriel u. Arnold Muhl, Der slawische Trinkhornmann von Seehausen. Präsentation und Interpretation einer frühmittelalterlichen Kleinskulptur. Jahresschr. mitteldt. Vorgesch. Halle 94 (2014), 399-416.

4 Das auf der Vorderseite des sog. "Wartislaw-Steins“ bei Görke, Lkr. Vorpommern-Greifswald, abgebildete Horn dürfte dagegen hochmittelalterlich sein, wie ähnliche Hörner auf mitteldeutschen Steinen zeigen.

5 vergleiche Abbildung unter https://finds.org.uk/database/artefacts/record/id/125045 ; Alfred Muhl sei für den Hinweis auf den Fund herzlich gedankt.

6 B. Hammond, British Artefacts. Volume 3 - Late Saxon, Late Viking & Norman (AD 950-1150) (Witham 2013): 50 , 1.6-c

7 Jan Peter Lamm u. Erik Nylen, Bildsteine auf Gotland (Neumünster 1991)

8 Ingo Gabriel, Gabriel, I.; Hof- und Sakralkultur sowie Gebrauchs- und Handelsgut im Spiegel der Kleinfunde von Starigard/Oldenburg. In: Oldenburg-Wolin-Staraja Ladoga-Novgorod-Kiew. Handel und Handelsverbindungen im südlichen und östlichen Ostseeraum während des frühen Mittelalters. Ber. RGK 69, 1988, 103-263 (hier 117 und Abb. 5,2-3).

Fund des Monats April 2016

Zu fein, um alt zu sein?