Liste der Schande? „Franzosenkinder“ in Mecklenburg-Vorpommern
Archivalie des Monats Juli 2019
Auszug aus der „Aufstellung der Kinder, die von Angehörigen der französischen u. belgischen Nation erzeugt worden sind“
Quelle: LHAS, 6.11-21, Nr. 3936
Auszug aus der „Aufstellung der Kinder, die von Angehörigen der französischen u. belgischen Nation erzeugt worden sind“
Quelle: LHAS, 6.11-21, Nr. 3936
Am 24. Juli 1947 ließ die Dienststelle des französischen Kontrollrates in Berlin gegenüber Vertretern der mecklenburgischen Landesregierung gesprächsweise erkennen, dass deutsche Kinder von französischen oder belgischen Kriegsgefangenen „mit Spenden bedacht werden“. Gemeint war wohl eher „bedacht werden k ö n n e n“ , aber das ursprünglich letzte Wort des Satzes war im entsprechenden Gesprächsvermerk der mecklenburgischen Landesregierung dann aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen gestrichen. Am 14. August 1947 jedenfalls informierte die zuständige Ministerialabteilung Landesjugendamt die Jugendämter sämtlicher Räte der Kreise und Städte. Erbeten wurde von ihnen eine sofortige Meldung der Kinder mit deutschen Müttern und französischen oder belgischen Vätern, weil sie „vom Franz[ösischen] Kontrollrat mit Spenden bedacht werden s o l l e n.“ Die Änderung zweier Worte wandelte also eine eher vage Möglichkeit binnen drei Wochen in eine anscheinend ziemlich konkrete Absicht.
Regierungsrätin Lucia Hardt
Quelle: LHAS, 6.11-11, Nr. 8336
Regierungsrätin Lucia Hardt
Quelle: LHAS, 6.11-11, Nr. 8336
Sukzessive trafen aus den Kreisjugendämtern von Anklam bis Wismar die Ergebnisse ihrer Recherchen bei der federführenden Regierungsrätin Lucia Hardt, im Übrigen eine Re-Migrantin jüdischer Abstammung, in Schwerin ein. Von den Kreisen Schönberg-Grevesmühlen, Schwerin, Stralsund und Wismar-Stadt abgesehen, die Fehlanzeige meldeten, konnten alle Stellen die Namen von Kindern deutscher Mütter und kriegsgefangenen französischen bzw. belgischen Vätern in ihrem Zuständigkeitsbereich mitteilen. Welche Quellen diesen Mitteilungen zu Grunde lagen, erschließt sich aus den Kreismeldungen allerdings nicht. Geradezu spektakulär präsentierte sich die Situation im Kreis Randow, obwohl hier lediglich ein Kind namhaft gemacht wurde: „Nach Angabe der Mutter [soll es] von einem Angehörigen der belgischen Nation erzeugt sein. Der [deutsche – d. Verf.] Ehemann befindet sich nach ihren Angaben noch in Kriegsgefangenschaft. Die Ehe besteht noch.“
Im Ergebnis der Abfrage, der Recherchen vor Ort und der Rückmeldungen entstand eine 101 Namen umfassende „Aufstellung der Kinder, die von Angehörigen der französischen u. belgischen Nation erzeugt worden sind“ und in Mecklenburg(-Vorpommern) lebten. Dieses Verzeichnis übermittelte das Landesjugendamt am 6. November 1947 der mecklenburgischen Präsidialkanzlei mit der Bitte, sie an die Dienststelle des französischen Kontrollrates in Berlin weiterzureichen. Offenbar musste jedoch noch nachgebessert werden, denn per 17. November erhielten mehrere Kreisjugendämter aus dem Ministerium noch eine Aufforderung zur namentlichen Benennung der Väter der bereits mitgeteilten Kinder. Ob je eines dieser „Franzosenkinder“ eine Spende des französischen Kontrollrates erhielt, ist bisher nicht bekannt.
Bekannt ist hingegen, dass das Leben der Mütter zunächst nicht ganz ungefährlich war und sodann, was oft auch für das Schicksal der Kinder galt, nicht immer einfach. Die Mütter hatten sich, ebenso illegal wie lebensgefährlich, auf eine Liaison mit dem „Feind“ eingelassen. Die Rollen bei dieser „horizontalen Kollaboration“ waren aber gleichsam vertauscht, denn hier gehörten die Väter einer besiegten Nation an. Üblicher war eher, dass Besatzungssoldaten aus der Siegernation mit Frauen aus der besetzten bzw. besiegten Nation Kinder zeugten. Gleichwohl, Einvernehmen vorausgesetzt, eine Frucht der Liebe wurden diese Kinder in mehr oder weniger allen Nationen nach dem Ende des Krieges bzw. der Besatzung als „Kinder der Schande“ stigmatisiert: In Frankreich wuchsen die Têtes des boches („Germanenschädel“, zugleich auch „Holzkopf“) ohne ihre deutschen Väter und oft sozial ausgegrenzt auf, in Belgien die Koekoekskinder („Kuckuckskinder“), in Norwegen die Tyskebarna („Deutschenkinder“), oder eben in Deutschland die „Franzosenkinder“ ohne ihre französischen Väter.
Die Liste der „Franzosenkinder“ in Mecklenburg(-Vorpommern) hat ein Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende nichts an Aktualität verloren. Anfang 2019 präsentierte Spiegel-Online einen heute in Slate bei Schwerin lebenden Sohn eines französischen Kriegsgefangenen, im April dann das Arte-Journal die in Schwerin lebende Enkelin eines solchen. Der Vater eines heute ebenfalls in Schwerin lebenden „Franzosenkindes“ war in Ruthenbeck bei Crivitz kriegsgefangen, wo der mündlichen Überlieferung zufolge jeder französische Kriegsgefangene seine deutsche Freundin gehabt habe. Und schließlich meldete sich zu Jahresbeginn beim Landeshauptarchiv Schwerin ein „Franzosenenkel“ in der Hoffnung, seinen in Anklam kriegsgefangenen französischen Großvater mithilfe der Aufstellung identifizieren zu können. Sie erfasste jedoch weder seine Großeltern noch ihr Kind, seinen Vater.
Dr. Matthias Manke
Quellen
LHAS, 6.11-21, Nr. 3936
LHAS, 6.11-11, Nr. 8336
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2021
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- Mai: Kriegsende 1945: Massensuizid in Stavenhagen
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- März: In 120 Jahren: Vom Hirschgarten am Forstgehöft zum europäischen Spitzenzoo in Rostock
- Februar: Unter Kreuzband. Kommunikation des großherzoglichen Konsulates Riga
- Januar: "das wirksamste Mittel": Juden als Lotterieeinnehmer in Mecklenburg-Schwerin
2019
- Dezember: Als die Kirche Recht sprach - Die Stiftung des herzoglichen Konsistoriums in Rostock am 8. Februar 1571
- November: 1419: Papst Martin V. erlaubt die Stiftung einer Universität in Rostock und stattet sie mit Privilegien aus
- Oktober: "Wichtig für die Identität des Landes". Die Verfassung Mecklenburg-Vorpommerns
- September: Seltenes Bilddokument einer mecklenburgischen NS-Formation
- August: "Papa Frahm": Die mecklenburgischen Wurzeln eines deutschen Bundeskanzlers
- Juli: Liste der Schande? „Franzosenkinder“ in Mecklenburg-Vorpommern
2015
2014
2013
2012
- November: Maßnahmen zur Abwehr der Cholera
- September: Es bimmelt! - Ein Hilferuf an die Bevölkerung, bei der Bergung der Kartoffelernte zu helfen
- Juli: Die Bombardierung Ratzeburgs 1693
- Juni: "Ein güste Kindelbier" – Wenn Laien Taufe spielen
- Mai: Aus dem Tagebuch einer Hebamme
- April: Sportplätze für den Frieden – Wie der Fußball auf die Güter Mecklenburgs kam
- März: Wertvolles Salz
- Februar: Feuer, Wasser, Krieg und andere Katastrophen
- Januar: Spionageabwehr in der mecklenburgischen Provinz
2011
- Dezember: Tilgung des Wolfes
- November: Von Blutsaugern und Geisterbeschwörern
- Oktober: Das Gebäude des Landeshauptarchivs in Schwerin wird 100 Jahre alt
- September: Königliche Hochzeit in Mecklenburg-Strelitz vor 170 Jahren
- August: Blitzeinschlag in der Schweriner Schelfkirche anno 1717
- Juli: Das Landeshauptarchiv in Schwerin - 100 Jahre in Bildern
- Juni: Tanzen verboten - Das ausschweifende Leben des Schulzen Godejohann
- Mai: Ehm Welk und der beschwerliche Aufbau der Volkshochschule Schwerin vor 65 Jahren
- April: Abschied vom Amt
- März: Teterow - eine Ansicht aus dem Jahr 1845
- Februar: Du bist, wo du in der Kirche sitzt
- Januar: Hieroglyphen im Landeshauptarchiv Schwerin. Historische Sensation oder originelle Momentaufnahme?
2010
- Dezember: Über Stock und über Stein … Guthendorfer Vieh im Brünkendorfer Roggen
- November: Eine Prachtausgabe für den Oberst Baron Gerhard von Langermann
- Oktober: Restaurierung eines Transparentobjekts aus den Schlossmappen des Landeshauptarchivs Schwerin
- September: Farbige Zeichnungen dänischer Militäruniformen im Nachlass eines Mecklenburgers
- August: Austernzucht in der Ostsee
- Juli: Bunt und kreativ versus Staub und Aktenmief - Das Beerdigungsbuch von Klütz
- Juni: Der Feldzug gegen Mirow
- Mai: Der älteste Stadtplan der Schweriner Vorstadt von 1804
- April: Von Protektoren, hohen Beförderern und ordentlichen Mitgliedern - Matrikelbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte
- März: Die Schweriner Stadtsiegel
- Februar: Verordnung gegen Holzdiebereien in den Königlich Schwedischen Waldungen des Amtes Neukloster
- Januar: Schmuggel an Pommerns Küste - Die Beschlagnahmung der Schiffe "Orion" und "Goede Hoop" im Mai 1808 in Kolberg
2009
- Dezember: Friedrich Wilhelm Buttel - Ein Zeitgefährte von Adolph Demmler
- November: Der Heilige Antonius von Sülten
- Oktober: Neue Plätze für die Toten – Grabkultur in Picher im 18. Jahrhundert
- September: Vineta, die versunkene Metropole des Nordens auf einer Karte schwedischer Landmesser
- August: Der Bau einer "Klein-Kinder-Schule" – Ein Projekt von Hermann Willebrand
- Juli: Die Ostsee muss ein Meer des Friedens sein – die Ostseewochen im Bezirk Rostock
- Juni: Großherzog Friedrich Franz IV. in seinem ersten Automobil im Jahr 1901
- Mai: Zuflucht im Pfarrhaus
- April: Patent gegen die Prozesssucht – Herzog Friedrich wehrt sich 1776 gegen zudringliche Untertanen
- März: TERRA- Schlepper, das Pferd der Zukunft
- Februar: Die Macht der Bilder. Der 30000. Heimkehrer aus sowjetische Kriegsgefangenschaft
- Januar: Schwerin wird verkauft
2008
- Dezember: Elektronische Akten im Archiv der Zukunft
- November: Der lange Weg zum Wiederaufbau von St. Marien in Neubrandenburg
- Oktober: Mecklenburg und die deutschen Währungsreformen im 20. Jahrhundert
- September: Schicksalsjahr 1866 – Das Ende der mecklenburgischen Selbständigkeit
- August: 2.23-4 Kriminalkollegium Bützow (1812-1879) Nr. 647
- Juli: Der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich von 1755
- Juni: Der "Löwe aus Mitternacht" streckt seine Pranke nach Mecklenburg aus
- Mai: Mecklenburg im 16. Jahrhundert
- April: Sternberg 1492 und die Folgen
- März: Ein Schatz im Landesarchiv Schwerin
- Februar: Ossenköpp – zur Geschichte der mecklenburgischen Wappenfigur
- Januar: 1158: Papst Hadrian IV. bestätigt das Bistum Ratzeburg
2007
- Dezember: Kuriose Postkarten
- November: 1812 – November: Anweisung der Militärverpflegungsdirektion Rostock
- Oktober: Zeitkritische Dichtung oder "Spottlied über die heutige demokratische Bewegung"?
- September: Die letzte Fürstenhochzeit im regierenden Haus Mecklenburg
- August: Der Ernstfall war vorbereitet - Ein Dokument zum 13. August 1961
- Juli: Unter dem Dach des Landeshauptarchivs
- Juni: Tagebuch einer Reise nach Brasilien im Jahre 1824
- Mai: Stiftung eines Ordens für die Konventualinnen der Landesklöster Dobbertin, Malchow und Ribnitz