Theodor Ackermanns mecklenburgischer Cholera-Atlas von 1859: Das Beispiel Dargun

Archivalie des Monats Juni 2020

Cholerafälle in Dargun 1859 (LHAS, 5.12-7/1, Nr. 11304, quadr. 249)Details anzeigen
Cholerafälle in Dargun 1859 (LHAS, 5.12-7/1, Nr. 11304, quadr. 249)

Cholerafälle in Dargun 1859 (LHAS, 5.12-7/1, Nr. 11304, quadr. 249)

Cholerafälle in Dargun 1859 (LHAS, 5.12-7/1, Nr. 11304, quadr. 249)

Nunmehr seit Monaten beschäftigt ein Virus die Menschheit, das die Welt gleichsam stillstehen ließ. Gelegentlich kam dabei die Rede auf große historische Pandemien: Pest, Cholera oder Spanische Grippe. Mit manchmal mehr und, wie ein Resümee des Schweriner Hospitalarztes Dr. Burchard Greßmann gleich deutlicher werden lässt, gelegentlich weniger rationaler Herangehensweise setzten sich Zeitgenossen mit diesen Krankheiten auseinander. Sie versuchten, Ursachen und Verläufe als Basis für Gegenstrategien zu ergründen. In diesem Muster unterschied sich die Vergangenheit nicht von der Gegenwart.

Burchardt Greßmann weilte im Oktober 1831 prophylaktisch zu Studienzwecken in Berlin, wo die Cholera wütete und medizinische Kapazitäten sich mit dem Containment befassten. "Einzelne schwere Fälle [wurden] mit glänzendem Erfolg behandelt: der Eine mit Kampfer, der Andere mit Calomel, der Dritte mit Glühwein, der Vierte mit kalten Sturzbädern, der Fünfte lässt einen völlig pulslosen blauen Cholerapatienten zur Ader, kriegt wirklich Blut und stellt ihn her – da stelle nun mal jemand ein rationelles Heilverfahren für alle Fälle zusammen."

Ähnlich, als Sanitätsrat aber womöglich ein wenig "sachlicher", urteilte sein Boizenburger Kollege Dr. J. C. Richter: "Eine Hypothese sucht die andere zu verdrängen und das Resultat des bisherigen Forschens ist, daß wir den Feind nicht kennen, gegen den wir Ärzte unsere praktischen Kenntnisse zeigen sollen. Unseren Nachkommen bleibt es vorbehalten, das Problem zu lösen, wir können nur die einzelnen Bruchstücke sammeln, aus denen sie dereinst die tauglichsten zum Bauen aussuchen werden." Dem eher aus der Not geborenen Rat leistete, da Robert Koch und andere den Erreger erst 1884 identifizierten und den Ansteckungsmechanismus entdeckten, Dr. Theodor Ackermann wie aufs Wort Folge – allerdings knapp drei Jahrzehnte später.

1860 versuchte er, "ein übersichtliches Bild aus den reichen Beobachtungen zu entwerfen, welche von Mecklenburgs Aerzten über die Cholera-Epidemie des verflossenen Jahres gesammelt wurden und einen Theil der Bedingungen aufzudecken, unter deren Einfluß die Krankheit ihre verderblichen Spuren durch einen großen Theil des Landes gezogen hat." Tatsächlich hatte das großherzogliche Ministerium für Medizinal-Angelegenheiten sämtliche Ämter aufgefordert, ihre im Laufe des Jahres zur Cholera-Epidemie angelegten Akten einzureichen. Ab 10. Dezember 1859 erhielt sie der genannte Mediziner zur Auswertung.

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Theodor Ackermann

Theodor Ackermann

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Dieser 1825 in Wismar geborene Sohn des Bützower Kriminalrates Conrad August Ackermann hatte das Gymnasium in Greifswald besucht, nahm 1847 ebendort ein Medizinstudium auf, und schloss es nach Stationen in Würzburg und Prag 1852 in Rostock mit der Promotion ab. Nach einer Klinikassistenz an der Universität und der Habilitation wurde er dort 1856 Privatdozent und im Mai 1859 außerordentlicher Professor. Im Ergebnis seiner Analyse der erwähnten Ämterakten entstand die bereits zitierte Beschreibung der "Choleraepidemie des Jahres 1859 im Großherzogthum Mecklenburg-Schwerin nach officiellen Mittheilungen und nach Berichten der Prediger, Aerzte und Physiker des Landes". Sie forderte im Übrigen 4.237 Tote.

Das 271 Druckseiten umfassende Werk erschien im November 1860 zusammen mit einem zehnblättrigen Cholera-Atlas, der jedoch zumeist unbeachtet bleibt. Die Darstellung enthielt neben gesonderten Abhandlungen über die Epidemieverläufe in Rostock und Goldberg Ausführungen zu den Verläufen in 194 anderen tödlich betroffenen Städten, Flecken, Dörfern und Gütern, Mitteilungen über die bekannten Verbreitungswege und über lokalspezifisch begünstigende Faktoren, Prophylaxehinweise, Statistik und Schlussfolgerungen. Der Atlas beinhaltete vier Blätter mit den Fallkurven für das gesamte Land bzw. einzelne Landesteile, fünf Ortspläne zur Verdeutlichung lokaler Ausbreitungswege bzw. Konzentrationen und eine Übersichtskarte zur Epidemie in Mecklenburg-Schwerin.

Über deren Verlauf beispielsweise in Dargun, dem einzigen zwischen Teterow und Gnoien sowie der pommerschen Grenze betroffenen Ort, heißt es: "Nur einige wenige Fälle anscheinend gewöhnlicher Diarrhoe hatten sich gezeigt, als am 8. August ein zwei Tage vorher von Schwasdorf schon unwohl zurückgekehrter Maurergeselle an der Cholera erkrankte. Kurze Zeit nach seinem bald erfolgten Tode wurden dann auch seine beiden Kinder und seine Witwe ergriffen, eine weitere Verbreitung wurde aber im Anschluss an diese erste Gruppe von Erkrankungen noch nicht beobachtet." Allerdings folgte ab 20. August eine durch Neueinschleppung des Virus ausgelöste zweite und Mitte September sogar eine dritte Welle. Für letztere ließ sich die Infektionskette nicht mehr nachverfolgen, aber sämtliche Fälle ereigneten sich in dicht belegten, schmutzigen, ärmlichen Wohnstätten mit "massenhaften Dunganhäufungen" in der Umgebung.

Das achte Atlas-Blatt gibt diese Wellen ebenso wieder wie einige Cholerine-Erkrankungen, wie leichte und atypische Cholera-Fälle genannt wurden. Warum aber fanden sich ausgerechnet die wenigen Erkrankungen in Dargun mit 29 oder 32 Todesfällen bei 79 Erkrankten auf 2.200 Einwohner (1,31-1,45%) und nicht etwa stärker betroffene Orte auf einem von lediglich fünf vergleichbaren Atlas-Blättern? Nun, die Antwort fällt nicht schwer – es war, wie bei den vier anderen Blättern auch, die Vor- bzw. Zuarbeit. Für Dargun leistete sie der örtliche Arzt Dr. Bernhard Linsen, dem damit der früheste oder zumindest einer der frühesten Pläne des Fleckens zu verdanken ist!

Dr. Matthias Manke

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