Register des Grauens. Das Sterbezweitbuch des Standesamtes Ivenack 1945

Archivalie des Monats April 2020

Auszug aus dem Sterbezweitbuch des Standesamtes Ivenack, 1945 (LHAS, 17.1-8, Nr. 148)Details anzeigen
Auszug aus dem Sterbezweitbuch des Standesamtes Ivenack, 1945 (LHAS, 17.1-8, Nr. 148)

Auszug aus dem Sterbezweitbuch des Standesamtes Ivenack, 1945

Auszug aus dem Sterbezweitbuch des Standesamtes Ivenack, 1945

In wenigen Wochen jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal. Unabhängig davon, ob diese Zäsur als Besatzung oder Befreiung empfunden wird, verbanden sich mit dem entsprechenden Geschehen vielfach abscheuliche Verbrechen und trostloses Leid. Davon betroffen waren sowohl die militärischen Sieger als auch die Angehörigen der besiegten Armeen und nicht zuletzt Zivilisten. Sie, d.h. hier die Bewohner des Gutes Ivenack, stehen nachfolgend im Mittelpunkt.

Das idyllisch am See unweit von Stavenhagen gelegene Gut Ivenack gehörte 1945 Albrecht Adolf Leberecht Freiherr von Maltzahn Graf von Plessen. Unter dem 2. Mai des Jahres weist das Sterbezweitbuch des Standesamtes Ivenack, einzig aufgrund einer Zufälligkeit im Landeshauptarchiv Schwerin überliefert, das Ableben des Grafen aus. Es war weder seinem Alter noch, gleichwohl eine "tödliche Schußverletzung" ursächlich war, einem Unfall geschuldet. Einerseits fanden sich "im Rehgarten bei Ivenack" neben dem knapp 54jährigen Gutsbesitzer seine zwei Jahre jüngere Ehefrau Magdalene geb. Gräfin Waldersee und die bei ihnen tätige Schwester Emma Fuchs mit jeweils identischer Todesursache, andererseits trugen im genannten Sterbezweitregister alle drei Einträge den Zusatz "Freitod". Über das zugrunde liegende Motiv kursieren drei Versionen.

Blick über den See zu Schloss Ivenack, 1907 (LHAS, 13.2-5, Nr. 4/287)Details anzeigen
Blick über den See zu Schloss Ivenack, 1907 (LHAS, 13.2-5, Nr. 4/287)

Blick über den See zu Schloss Ivenack, 1907

Blick über den See zu Schloss Ivenack, 1907

Der Gutsnachbar Georg Graf von Schwerin auf Zettemin hatte in Erfahrung gebracht, dass die Eheleute "eine derartig entsetzliche Vergewaltigung ihrer Pastorenfrau [hatten] mitansehen müssen, machtlos, sie zu schützen, dass sie die einzige Rettung vor gleichem Schicksal nur im Tod erblickten. Nach Abschiednahme von ihrem Sohn erschoß der Graf erst seine Frau, dann eine bei ihnen befindliche Krankenschwester und zuletzt sich selbst." Anderen, der aus Quadenschönfeld geflohenen und über Ivenack gen Holstein treckenden Frau von Romberg geb. Gräfin Bernstorff vorliegenden Informationen zufolge wurde "die Gräfin von den Russen mißhandelt," aufgrund dessen "der Graf und die Gräfin sich erschossen haben."

Manfred Graf von Plessen schließlich, der mittlere der drei Söhne des Ehepaars, wusste durch Dritte, dass seine Eltern "in den beiden Tagen nach dem Einmarsch der Roten Armee auf schlimmste sadistische Weise gedemütigt worden" sind und sich gemeinsam mit dem Kindermädchen im Waldstück Rehgarten mit einem Jagdgewehr erschossen. Er interpretierte den Suizid seiner Eltern als Nachahmungstat, weil bereits am 1. Mai "viele Frauen" auf dem Gut aufgrund unvorstellbar grausamer Übergriffe der Besatzungstruppen "den Entschluss [fassten], sich zusammen mit ihren Kindern im Ivenacker See zu ertränken."

Auch Graf Schwerin-Zettemin war nicht entgangen, dass sich von April auf Mai 1945 "auf dem Gute Ivenack einige dreißig Menschen das Leben [nahmen]." Im standesamtlichen Sterberegister scheint das jedoch keine Widerspiegelung zu finden, denn für den Zeitraum vom 20. April bis zum 5. Juli 1945 fehlt es an jeglichen Einträgen. Die Lücke beginnt sich jedoch am folgenden Tag mit dem Nachtrag eines Todesfalles zu schließen, der am 30. April 1945 im "Rehgarten bei Ivenack" eingetreten war. Und es ging weiter mit nachträglichen Registrierungen zu selbigem Datum: "Ertrunken im ‘neuen Wasserloch’ bei Zolkendorf" eine Person, "ertrunken in der Torfgrube bei Ivenack" ein Ehepaar und der gemeinsame Sohn. Am 1. Mai 1945 folgten ihnen laut Sterberegister weitere Personen in den "Freitod", wie der Zusatz zum Eintrag auswies. Ein Rentnerehepaar mit seiner als Köchin tätigen Tochter, ein Gartenarbeiter mit seiner Ehefrau, drei Frauen von 78, 57 und 43 Jahren – alle "ertrunken im Ivenacker See". Es hat einen Hauch von besonderer Tragik, am Ende dieses unseligen Reigens zwei Paare von noch nicht einmal zehn Jahre alten Brüdern aus Hannover bzw. Berlin zu sehen, letztere zudem von ihrer dreijährigen Schwester in den Tod begleitet.

Die Anzeige dieser Freitode beim Standesamt und damit vermutlich auch die Identifizierung der Toten erfolgte nahezu ausschließlich durch nächste Verwandte – Mütter, Töchter, Schwestern, Söhne bzw. Brüder, Brüder bzw. Schwäger, Ehemänner bzw. Väter. Besonders schwer dürfte dieser Gang zum Standesamt für Senator a. D. Paul Struck aus Krakow am See gewesen sein, der am 2. Mai 1945 auf einen Schlag Enkel, Tochter, Schwiegersohn und zwei weitere Verwandte in Ivenack verlor. Es handelte sich, wie auch Graf von Schwerin wusste, um die Familie des Ivenacker Gutsinspektors einschließlich seiner Mutter und seiner Schwester: "Gegen den Willen der armen Kinder bewerkstelligte [er] es auf eine eigenartige Weise: er sprengte sich und die Seinen mit einer Mine in die Luft!" Auch dieser erweiterte Suizid spiegelt sich im erwähnten Sterberegister wider: "Am Nordrande der ‘Hollbäck’ auf der Ivenacker Feldmark […] durch Sprengladung getötet (Freitod)".

Tatsächlich also gingen, wie Manfred Graf von Plessen ausgesagt hatte, am 1. Mai 1945 13 Menschen und damit neben zwei Männern in gewissem Sinne "viele" Frauen mit ihren Kindern in den Ivenacker See. Hingegen nahmen sich, anders als von Graf Schwerin-Zettemin behauptet, in diesen Tagen auf Gut Ivenack nicht "einige dreißig" Menschen das Leben. Tatsächlich waren es "nur" 29, gleichwohl weitere 29 Opfer nationalsozialistischer Politik zu viel.

Dr. Matthias Manke

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