Ledertasche mit Hintersinn: Ein mittelalterliches Meisterwerk aus Wismar

Fund des Monats März 2023

Abb. 1: Hansestadt Wismar. Ledertasche mit verzierter Schauseite.Details anzeigen
Abb. 1: Hansestadt Wismar. Ledertasche mit verzierter Schauseite.

Abb. 1: Hansestadt Wismar. Ledertasche mit verzierter Schauseite.

Abb. 1: Hansestadt Wismar. Ledertasche mit verzierter Schauseite.

In der Johannes-Stelling-Straße in Schwerin wächst ein ganz besonderer Bau empor: Das Staatliche Bau- und Liegenschaftsamt Schwerin errichtet dort ein Werkstatt- und Depotgebäude, in dem künftig viele der wichtigsten Kulturgüter des Landes aufbewahrt werden sollen. Auch das Archäologische Archiv mit seinen Schätzen aus zwölf Jahrtausenden wird in dem Neubau sein Zuhause finden. Vor dem Umzug steht allerdings die Jahrhundertaufgabe, den gesamten Bestand einmal zu sichten, zu erfassen, zu kennzeichnen und für die archivgerechte Lagerung vorzubereiten. Dabei könnte die Vielfalt der Objekte kaum größer sein – von der winzigen Pfeilspitze bis zum fast 20 m langen Schiffswrack. Sie alle erfordern, je nach Material, Zustand und Größe, ganz unterschiedliche Handhabung und Aufbewahrung.

Zu den besonders sensiblen Schätzen des Archäologischen Archivs gehören Ledergegenstände, die bei Ausgrabungen in den mittelalterlichen Altstädten unseres Landes geborgen worden sind. Der Bestand umfasst mehrere tausend Einzelobjekte, die einen einzigartigen Ausschnitt aus der Sachkultur der mittelalterlichen Stadtbevölkerung widerspiegeln. Von einigen gedruckten Veröffentlichungen abgesehen, war der Bestand bisher aber kaum zugänglich, da die Fundstücke dicht gestapelt in großen Kunststoffbehältern lagerten.

Erst durch die Umzugsvorbereitungen erwachten auch die mittelalterlichen Ledergegenstände aus ihrem Dornröschenschlaf. Stück für Stück wurden sie aus den Kunststoffbehältern und -beuteln entnommen, restauratorisch begutachtet, in der Datenbank erfasst und für ihre künftige archivgerechte Lagerung vorbereitet. Dabei wurde klar, welche prächtigen Kunstwerke darunter sind: Aufwändig gefertigte Messerscheiden, feinstes Schuhwerk und kunstvoll verzierte Taschen, um nur einige Beispiele zu nennen. Eine der letzteren soll in diesem Beitrag vorgestellt werden.

Die Ledertasche (Abb. 1) wurde 2001 aus einer Latrine in Wismar geborgen, in die sie im 15. Jahrhundert hineingelangt war, wie die anderen Gegenstände aus der Fundschicht verrieten. Warum sie in die Latrine fiel oder gar hineingeworfen wurde, bleibt ein ungelöstes Rätsel. Die feuchten Ablagerungen in der Latrine luden aber anscheinend nicht dazu ein, sie wieder herauszuholen, und so blieb sie für mehrere Jahrhunderte unter fast idealen Lagerungsbedingungen an Ort und Stelle. Erst der Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses machte es nötig, die Latrine auszugraben. Dabei kam auch die Tasche aus den mittelalterlichen, geruchlich immer noch prägnanten Fäkalien wieder zum Vorschein. Genau wie die anderen Fundstücke erhielt sie eine Inventarnummer und wird seitdem unter der Bezeichnung ALM 2001/824,95 im Archäologischen Archiv geführt. Sie wurde gereinigt, fotografiert und anschließend durch Tränkung mit Polyethylenglykol konserviert.

Die Tasche ist, einschließlich des Trageriemens, vollständig erhalten (Abb. 2). Sie ist etwas über 11 cm breit und etwa 9,5 cm hoch. Ihr Inneres ist mehrfach unterteilt und kann vollständig aufgeklappt werden (Abb. 3). Sowohl die Innentasche als auch die gesamte Vorderseite der Tasche sind mit eingeprägten Mustern verziert, wobei die Ornamentik der Innentasche eher schlichter Natur ist und aus einem Rautenmuster besteht (Abb. 4). Die Vorderseite dagegen zeigt eine vollflächige figürliche Darstellung (Abb. 5). Zu erkennen sind zwei Menschen, die sich gegenübersitzen. Die linke Figur erscheint nach Kleidung und strenger Haartracht eher weiblich, die rechte Figur mit ihren offenen Haaren eher männlich. Eine Hand ist jeweils erhoben, während die andere auf einer Art Brett liegt. Im Hintergrund und über den Figuren breitet sich eine florale Ornamentik aus. Am rechten Rand, im Rücken der rechten Figur, ist auch ein lilienartiges Motiv zu erkennen, zwischen den Figuren zwei Sterne und in der rechten oberen Ecke eventuell ein Vogel. Der Hintergrund zwischen den Ornamenten besteht aus dicht gesetzten Punkten. Alle Vertiefungen sind dunkel gefärbt, um die plastische Wirkung zu steigern.

Wie ist dieses Motiv zu entschlüsseln? Wie im Mittelalter üblich, dürfte die Ornamentik nicht unbedingt als eigenständige schöpferische Leistung des Taschenherstellers entstanden sein, sondern einem in weiten Kreisen der Stadtbevölkerung bekannten und verstandenen Bilderkanon folgen. Als Quelle kommt also zunächst die religiöse Bilderwelt in Betracht, wie sie sich in den kirchlichen Bildwerken darstellte. In den Städten waren außerdem Holzschnitte in Umlauf, die vielfach ebenfalls religiöse Motive wiedergaben, aber auch Motive aus der weltlichen Sphäre aufnahmen und "unter die Leute brachten". So erreichten sie auch das städtische Handwerk, das die Vorlagen dankbar aufnahm und auf seine Erzeugnisse übertrug. Sehr gut ist das zum Beispiel an den Ofenkacheln zu beobachten, die häufig Motive der Holzschnitte aufgreifen.

Es lohnt sich also, die Bilderwelt der Holzschnitte und der Buchmalerei, die wiederum als Vorlage für die Holzschnitte diente, nach möglichen Vorlagen für die Verzierung der Wismarer Tasche zu durchsuchen. Einen Anhaltspunkt für die Suche liefert das zwischen den beiden Personen dargestellte Brett, dessen Oberfläche in kleine Quadrate unterteilt ist. Acht Quadrate in einer Reihe – sollte es sich etwa um ein Schachbrett handeln? Tatsächlich sind Darstellungen schachspielender Personen in der mittelalterlichen Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts nicht selten. Fast immer sind sie im höfischen oder ritterlichen Bereich angesiedelt. Im Zentrum steht das Schachbrett, an dem meistens zwei männliche Personen sitzen, eine davon manchmal durch eine Krone als König gekennzeichnet. Den Rahmen bildet ein Innenraum, der mehr oder weniger detailliert mit Säulen, Gewölben, bleiverglasten Fenstern und Maßwerkbögen dargestellt ist.

In Kontrast dazu steht eine Gruppe von Darstellungen, die bei grundsätzlich gleichem Bildaufbau auch schachspielende Frauen zeigen. Im deutschen Sprachraum gibt es dieses Motiv zum Beispiel im Codex Manesse aus dem frühen 14. Jahrhundert. Blatt 13r zeigt Otto IV. von Brandenburg, der mit einer Dame eine Partie Schach spielt – oder die Dame mit ihm (UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, Bl. 13r; Abb. 6). Auch Darstellungen rein weiblicher Schachpartien sind schon aus dem 14. Jahrhundert bekannt, so zum Beispiel aus einer angeblich 1334 in Kassel entstandenen Miniatur, wobei die Bezeichnung "Edelfrauen spielen Schach" wiederum auf ein höfisches Umfeld schließen lässt.

Später kommen Darstellungen hinzu, die den engeren höfischen Bereich verlassen und das Schachspiel in andere Umgebungen verlagern. Darin spiegelt sich eine interessante Entwicklung wider, nämlich die Übernahme des Schachspiels durch eine städtisch-bürgerliche Elite. Gleichzeitig wird auch das Umfeld der schachspielenden Personen vielgestaltiger; statt eines Innenraumes kann nun auch ein Garten den Rahmen für die Szene bilden. Ein schönes Beispiel für dieses Motiv findet sich in der zwischen 1460 und 1470 vermutlich am Oberrhein entstandenen Darstellung "Der große Liebesgarten mit Schachspielern" (Kupferstich, 16,8 x 21 cm. Berlin, SMPK, Kupferstichkabinett; Abb. 7). Im Mittelpunkt steht ein schachspielendes Paar an einem Tisch. Aus der "triumphalen Kopfhaltung" der Schachspielerin schließt Büttner, dass sie im Begriff ist, die Partie zu gewinnen (Büttner 2007, 10). Zwei weitere Paare rahmen die Szene ein. Zentrales Element des Gartens ist ein Baum, der hinter dem Tisch mit dem Schachbrett aufragt; aus der Erde wachsen verschiedene Pflanzen mit unterschiedlich geformten Blättern. Außer den Menschen bevölkern drei Vögel den Garten, darunter eine Eule, ein vierter Vogel fliegt gerade heran. Büttner deutet die Einführung von "Lustattributen" wie Eulen und Vögeln in die ursprünglich höfisch geprägte Thematik des Gartens als Mittel zur "Parodisierung und Entlarvung der überkommenen höfisch-ritterlichen Liebesideale" (Büttner 2007, 48).

Damit ist klar, wo die Vorbilder für das Motiv auf der Wismarer Ledertasche zu suchen sind, nämlich in der Bilderwelt der allegorischen Darstellungen, in denen Schach für das Spiel zwischen den Geschlechtern steht, mal mit moralisierendem Hintergrund, mal in parodisierender und dadurch entlarvender Absicht wie beim "Großen Liebesgarten mit Schachspielern".

Der Meister der Wismarer Tasche stand vor der Aufgabe, das im Holzschnitt sehr detailliert dargestellte Motiv des schachspielenden Paares im Liebesgarten soweit zu vereinfachen, dass es sich in das Leder einprägen ließ. Dafür hat er das Motiv auf seine wichtigsten Bestandteile reduziert: Das Paar am Schachbrett, den Baum, die Pflanzen (in Form der Lilie und vielleicht auch der "Sterne") und den Vogel. Wer wollte und den Hintergrund kannte, konnte das Motiv also verstehen und sich sein Teil dabei denken. Über ihren ursprünglichen Inhalt gibt die Tasche leider keine Auskunft.

Dr. Detlef Jantzen

Literatur:

Büttner 2007: Katharina Büttner, Das Motiv der „femina ludens“ im Werk von Lucas van Leyden. Exemplarische Analysen. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie, Karlsruhe 2007.

Hamburger 2017: Jeffrey F. Hamburger, „Was ein junger Mensch hören und lesen soll“ – Deutsche Literatur im 15. Jahrhundert. In: BILDERWELTEN. Buchmalerei zwischen Mittelalter und Neuzeit. Katalogband zu den Ausstellungen in der Bayerischen Staatsbibliothek vom 13. April 2016 bis 24. Februar 2017. Luzern 2016, 169-171.

Müller 2000: Rainer A. Müller, Vom Adelsspiel zum Bürgervergnügen. Zur sozialen Relevanz des mittelalterlichen Schachspiels. Archiv für Kulturgeschichte 82, 2000, 67-91.

Schäfer 2005: Heiko Schäfer, Kleidung und Schmuck im Spiegel archäologischer Funde. In: Archäologie unter dem Straßenpflaster. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mecklenburg-Vorpommerns 39, Schwerin 2005, 347-350.

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