Kriegsende 1945: Massensuizid in Stavenhagen

Archivalie des Monats Mai 2020

Malchiner Straße in Stavenhagen, Postkarte (LHAS, 13.2-1/1, Stavenhagen Nr. 13)Details anzeigen
Malchiner Straße in Stavenhagen, Postkarte (LHAS, 13.2-1/1, Stavenhagen Nr. 13)

Malchiner Straße in Stavenhagen, Postkarte (LHAS, 13.2-1/1, Stavenhagen Nr. 13)

Malchiner Straße in Stavenhagen, Postkarte (LHAS, 13.2-1/1, Stavenhagen Nr. 13)

Stavenhagen wies noch im 20. Jahrhundert manch‘ idyllischen, fast wie ein Klischee von der mecklenburgischen Kleinstadt in "guter alter Zeit" anmutenden Winkel wie die Malchiner oder die Ivenacker Straße auf. Abrupt gingen diese Postkartenidylle in den letzten April- bzw. ersten Maitagen 1945 ihrer Unschuld verlustig. Das dafür ursächliche Geschehen ist im Kontext des Endes des Zweiten Weltkrieges zu suchen, das sich Anfang Mai 2020 zum 75. Male jährt und dessen Grausamkeiten nicht oft genug thematisiert werden können.

Ursächlich war allerdings nicht, dass die Reuterstadt noch am 29. April unter Fliegerbeschuss geriet. Menschenleben waren zwar nicht zu beklagen, aber sieben zerstörte Häuser – sie befanden sich sämtlich am Markt. Ursächlich, zumindest nicht unmittelbar, war auch nicht die militärische Besetzung am folgenden Tage – offiziell erfolgte sie kampflos, wenn auch womöglich nicht ganz konfliktfrei. Einen ersten Fingerzeig gibt Georg Graf von Schwerin, Besitzer des nahegelegenen Gutes Zettemin, in seinen Lebenserinnerungen: "allein in dem Städtchen Stavenhagen sollen es um die zweihundert Personen gewesen sein," die bei Kriegsende in den Suizid gingen. Doch darauf scheinen weder das Sterbeerst- noch das im Landeshauptarchiv Schwerin verwahrte Sterbezweitbuch des Standesamtes Stavenhagen für 1945 Rückschlüsse zu ermöglichen, da keine Aufzeichnung der Todesursachen erfolgte.

Selbst die standesamtlichen Sterbefallzahlen scheinen auf den ersten Blick einen derartigen Massensuizid auszuschließen, denn im April registrierte das Standesamt überhaupt lediglich 23 Todesfälle und im Mai gar nur 20. Bei genauerem Hinsehen fällt allerdings eine Aufzeichnungslücke zwischen 27. April und 21. Mai ins Auge, die sich im Weiteren zu schließen beginnt: zwei Sterbefälle aus dem Mai wurden im Juni nachregistriert, im August und September je drei weitere, im Oktober kamen dann fünf Todesfälle vom 30. April und zwei vom 1. Mai hinzu, und im November schließlich tätigte der Standesbeamte 84 Todesfall-Nachträge für April und Mai sowie im Dezember nochmals 33. 16 Nachträge erfolgten für den 30. April, 56 für den 1. Mai, 28 für den 2. und 21 für den 3., zwei für den 4. und einer für den 5. sowie weitere acht für die Zeit vom 9. bis 25. Mai. Zwölf der Nachträge bezogen sich auf Verstorbene, die nicht in der Stadt wohnten, sondern in zum Standesamtsbezirk gehörenden Umlanddörfern.

Ivenacker Straße in Stavenhagen, Fotografie (LHAS, 13.2-1/1, Stavenhagen Nr. 14)Details anzeigen
Ivenacker Straße in Stavenhagen, Fotografie (LHAS, 13.2-1/1, Stavenhagen Nr. 14)

Ivenacker Straße in Stavenhagen, Fotografie (LHAS, 13.2-1/1, Stavenhagen Nr. 14)

Ivenacker Straße in Stavenhagen, Fotografie (LHAS, 13.2-1/1, Stavenhagen Nr. 14)

Mit den Toten, die hier in Rede stehen, und ihrer Beziehung zur Malchiner und zur Ivenacker Straße verhält sich wie folgt. Die Sterbefälle traten kaum punktuell und isoliert in Erscheinung, sondern überwiegend als Gruppe bzw. Familie. Zunächst fallen im Sterberegister bestimmte topographische Häufungen ins Auge – am Amtsbrink die Häuser Nr. 12 und 29, in der Basepohler Straße Nr. 17 und 27, am Gotteskamp Nr. 2, 9, 11 und 12, in der Ivenacker Straße Nr. 8, 9 und 24, in der Neuen Straße Nr. 3, 9, 15, 17 und 19, am Reuterplatz Nr. 7, 10, 16 und 19, in der Schultetusstraße Nr. 21, 36 und 56 sowie in der Wallstraße Nr. 1, 28, 48 und 50. "Hotspot“ aber war die Malchiner Straße, in der die Häuser Nr. 25, 33, 34, 48, 50, 55, 60, 73 und 77 betroffen waren.

Derartige Ballungen von Sterbefällen verwandter Menschen unterschiedlicher Generationen an einem Ort lassen, nicht zuletzt in Berücksichtigung des Zeitraumes und des Zeitpunktes, kaum einen anderen Rückschluss zu als erweiterte Kollektivsuizide. Dabei sind bestimmte soziale Kontexte zwischen den Toten, d.h. familiär-verwandtschaftliche Beziehungen, unübersehbar. Als Beispiel mag die Ivenacker Straße 8 dienen, in der sich am 1. Mai 1945 sieben Menschen das Leben nahmen. Das älteste Mitglied eines fünfköpfigen Verwandtenkreises war die 71jährige Elisabeth D. geb. A. Hinzu kamen ihr als Apotheker tätiger Sohn Georg D. im Alter von fast 45 Jahren und ihre Tochter Elisabeth B. geb. D. im Alter von 41 Jahren. Die Apothekergattin Gertrud D. geb. Sch., die diese Todesfälle beim Standesamt zur Anzeige brachte, begleitete ihren Ehemann und ihre angeheirateten Verwandten ebenso wenig in den Tod wie die eigenen Eltern, den 66jährigen Kaufmann Georg Sch. und die 63jährige Ella Sch. geb. M.

Gertrud D. gab dem Standesamt ebenfalls zur Kenntnis, dass unter selbiger Adresse und an selbigem Datum die – vermutlich für das Apothekerehepaar tätige – 44jährige Hausgehilfin Else B. sowie 74jährige Wilhelmine P. geb. N. verstarben. Mit dem Schicksal, den Tod mehrerer Verwandter unterschiedlicher Grade verkraften und dem Standesamt anzeigen zu müssen, stand Gertrud D. weder allein noch – rein nominell betrachtet – an der Spitze. Diese wenig beneidenswerte Position nahm wohl die Arbeiterehefrau Lotte M. geb. M. ein. Sie meldete die am 1. Mai 1945 in der Schultetusstraße 36 eingetretenen Todesfälle von Willi M. und seiner Frau, deren Eltern und drei Schwestern sowie deren elf Kindern der Jahrgänge 1934 bis 1944.

Die Motive für solches Verhalten sind komplex, multikausal und bisweilen irrational. Ein starkes Motiv bildete Verzweiflung – Verzweiflung über die nach 1918 neuerliche militärische Niederlage, über eine sich als irrig erweisende Vorstellung einer arischen Überlegenheit, über ein zusammengebrochenes Weltbild. Hinzu kommen konnten ein Gefühl persönlichen Versagens, Angst vor einer ungewissen Zukunft und eventuellen Vergeltungshandlungen, der Einfluss der jahrelangen antisowjetischen (Gräuel-)Propaganda der Nationalsozialisten und deren Verstärkung durch propagandistisch überhöht ausgeschlachtete Ereignisse in Ostpreußen.

In Stavenhagen ließen sich davon, wie das im Landeskirchlichen Archiv verwahrte Kirchenbuch im Unterschied zum Standesamtsregister ausweist, 148 Menschen oder dreieinhalb bis vier Prozent der Stadtbevölkerung leiten!

Matthias Manke

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