"Empörende Entwürdigung des Hauses". Rauchende Militärs, ausschweifende Flüchtlinge und sowjetische Besatzer im Geheimen und Hauptarchiv Schwerin

Archivalie des Monats Januar 2023

 Abb.: Das Geheime und Hauptarchiv als Sitz der sowjetischen Stadt- und Kreiskommandantur Schwerin 1945 (LHAS, 13.4-3, Nr. 758)Details anzeigen
 Abb.: Das Geheime und Hauptarchiv als Sitz der sowjetischen Stadt- und Kreiskommandantur Schwerin 1945 (LHAS, 13.4-3, Nr. 758)

Abb.: Das Geheime und Hauptarchiv als Sitz der sowjetischen Stadt- und Kreiskommandantur Schwerin 1945 (LHAS, 13.4-3, Nr. 758)

Abb.: Das Geheime und Hauptarchiv als Sitz der sowjetischen Stadt- und Kreiskommandantur Schwerin 1945 (LHAS, 13.4-3, Nr. 758)

Die Menschen, die sich in einem öffentlichen Archiv aufhalten, teilen sich üblicherweise in zwei Gruppen. Zuvörderst, weil den Dienst- und Geschäftsbetrieb gewährleistend, ist an das Archivpersonal zu denken. Sodann sind Besucher, genauer gesagt: Tagesbesucher, verschiedenster Art zu nennen. An deren erster Stelle, und nur diese sei hier besetzt, stehen die gern gesehenen und nicht zuletzt eine der Zweckbestimmungen eines Archives erfüllenden Archivbenutzer. Beginnend wohl am 7. März 1945 bekam es das damalige Geheime und Hauptarchiv Schwerin jedoch mit Personenkreisen zu tun, die normalerweise weder der einen noch der anderen der beiden Gruppen angehören.

Rückwirkend zum genannten Datum schlossen die Abteilung Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung des Mecklenburgischen Staatsministeriums, der das Geheime und Hauptarchiv nachgeordnet war, und die örtlich zuständige Rüstungsinspektion einen Vertrag. Vereinbart wurde die Überlassung von drei Diensträumen im Archiv unter bestimmten Konditionen an das Militär für dessen Bürozwecke. Spätestens Anfang April gesellten sich zu den Mitarbeitern des Rüstungskommandos nicht näher charakterisierte Angehörige der Organisation Todt, einer paramilitärischen NS-Sonderorganisation für kriegswichtige Bauprojekte. Im weiteren Verlauf des Monats kamen gleichfalls nicht näher charakterisierte "Herren" des besonderen Einsatzstabes der Heeresgruppe Weichsel hinzu.

Jede Begegnung mit diesen archivfremden Personen muss für Werner Strecker, den Leiter des Geheimen und Hauptarchivs, nervenaufreibend und mit Ängsten verbunden gewesen sein: Mehr als einmal monierte er deren Missachtung des sich von selbst verstehenden und naheliegender Weise strikten Rauchverbotes im Archivgebäude. Parallel, d.h. noch vor Mitte April, tat sich ein weiteres Problem auf. "Seit einiger Zeit," so beschrieb es Werner Strecker dann Mitte Mai 1945, "dient das [Archiv-]Gebäude […] als Flüchtlingslager. Während zunächst nur der Vortrags- und der Benutzersaal mit Nebenräumen belegt waren, sind kürzlich auch die Hälfte der Dienstzimmer im ersten Stock sowie Bodenräume des Verwaltungsgebäudes, ferner das oberste Stockwerk des Magazins und Kammern im Magazin-Treppenhause mit in Anspruch genommen worden. […] Übrigens reichen für die jetzt im Archiv untergebrachten 300-400 Flüchtlinge die vorhandenen Klosetts in keiner Weise aus. Die Abflussanlage ist immer wieder verstopft."

Nach einer Ende Mai bitter geführten Klage über die "empörende Entwürdigung des Hauses" infolge von Notdurft-Verrichtungen im Treppenhaus und "ekelhaften Relikte[n]" nächtlicher "geschlechtlicher Ausschweifungen" platzte dem Archivleiter Ende Juni dann förmlich der Kragen: Statt seines Hauses sollte das gleichfalls als Flüchtlingslager genutzte Sparkassengebäude freigezogen werden, das die Stadtverwaltung als Büroraum u.a. für den Bürgermeister benötigte. Aber, so Werner Strecker, "das Archivgebäude […] verdient viel eher Schonung und Erhaltung als das häßliche Sparkassengebäude." Neben dem dringenden Eigenbedarf an den Räumlichkeiten trieb ihn einmal mehr das besondere Gefahrenpotenzial der permanenten Missachtung des Rauchverbotes um. Womöglich löste seine energische Schlussforderung, "wenn die Sparkasse geräumt werden kann, muß sich auch das Archiv freimachen lassen," zumal es sich dabei um "eine dringende Staatsnotwendigkeit" handele, etwas bei den Verantwortlichen aus.

Etwa Mitte Juli trat nämlich eine signifikante Veränderung, wenn auch nicht unbedingt eine Verbesserung ein: Auf den Auszug der Flüchtlinge folgte die Beschlagnahme des Archivverwaltungsgebäudes durch die sowjetische Besatzungsmacht. Sie löste die zunächst in Westmecklenburg und Schwerin stationierten anglo-amerikanischen Sieger ab und ließ das Haus sogar noch für die eigenen Bedürfnisse umbauen. Bis Jahresbeginn 1946 nutzte es die sowjetische Stadt- und Kreiskommandantur, wie es auch das auf der "Archivalie des Monats" über der Archiveingangstür zu erkennende Schild ausweist. Dann stand es eine Zeit leer und bot "fremden Elementen, die das Kellergeschoß bereits stark verwüstet haben, ungehinderten Zutritt", bevor es wohl bis September 1947 der Sowjetischen Militäradministration des Landes diente. Der Zugang des Fachpersonals und der Benutzer musste über einen "behelfsmäßige[n], schwer auffindbaren[n] Hauseingang" erfolgen, für die Erledigung der Fachaufgaben standen lediglich die Bodenräume des Verwaltungsgebäudes zur Verfügung. Im Winter taten Heizungsprobleme ein Übriges, so dass insgesamt – obwohl Werner Strecker später schrieb, Benutzer seien zugelassen worden, soweit der Mangel an Arbeitsraum es irgend gestattete – weder geregelte Benutzung noch überhaupt ein systematischer Archivbetrieb stattfinden konnten.

Parallel zu den militärischen Nutzern nahmen die Volksbücherei und das Grundbuchamt Räumlichkeiten im Archiv in Anspruch, auf die Sowjetische Militäradministration folgte die Landesjustizverwaltung und im Oktober 1952 das Institut zur Aus- und Weiterbildung von Berufsschullehrern. Die Räumung der letzten fremdgenutzten Räumlichkeiten, an die sich eine gründliche Renovierung und die Einrichtung eines neuen Benutzersaales anschloss, datierte erst 1954.

Dr. Matthias Manke

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