Eine Luftaufnahme aus dem Jahre 1903? Die Warnemünder Hafeneinfahrt aus der Vogelperspektive

Archivalie des Monats September 2023

Abb 1.: Die Warnow-Mündung am 30. September 1903Details anzeigen
Abb 1.: Die Warnow-Mündung am 30. September 1903

Abb. 1: Die Warnow-Mündung am 30. September 1903

Abb. 1: Die Warnow-Mündung am 30. September 1903

Gewöhnlich unterfällt der Archivar bei der Arbeit an und mit der Überlieferung in seiner Institution einer professionellen Routine. Gelegentlich jedoch bricht in das Alltagsgeschäft etwas überraschend Unerwartetes ein wie im Fall der Archivalie des Monats September. Die Fotografie entstand am 30. September 1903 im Zuge der feierlichen Eröffnung der neuen Eisenbahn- und Passagierfährverbindung zwischen Warnemünde und Gedser (Abb. 1). Die Aufnahme ist Teil einer Serie von wenigstens 15 Bildern, die der wohl zwischen 1900 und 1905 in Warnemünde und später in Kiel tätige Fotograf Eggert Hansen an diesem Tage schoss. Richtig spektakulär, und zwar insbesondere mit Blick auf das Entstehungsdatum, wird es erst durch den von unbekannter Hand angefügten Zusatz „Luftaufnahme“ der Warnemünder Hafeneinfahrt.

Die terrestrische Fotografie war zu diesem Zeitpunkt zwar bereits mehr als sechs Dezennien alt und allseits etabliert, selbst die Anfänge der Aerofotografie lagen schon fast ein halbes Jahrhundert zurück: 1855 ließ sich der Fotograf Gaspard-Félix Tournachon genannt Nadar (1820-1910) die Idee von Aufnahmen aus einem fahrenden Ballon in Frankreich patentieren, wohl im Folgejahr gelang ihm die praktische Umsetzung. Problematisch aber waren die langen Belichtungszeiten von sechs bis zwölf Minuten, die nur statische bzw. noch keine dynamischen Aufnahmen erlaubten. Umgehen ließ sich diese Hürde einerseits durch ein lichtempfindlicheres Verfahren, das Nasses-Kollodium-Verfahren, und andererseits durch einen Kniff: Um der schnellen Trocknung der Kollodiumschicht zu entgehen bzw. die Nassplatte in der notwendigen Zeitnähe bearbeiten zu können, errichtete der französische Fotograf nämlich am Boden eine portable Dunkelkammer, stieg dann für die Aufnahmen mit einem Ballon auf eine Höhe von ca. 80 m, kehrte hurtig zum Boden zurück und entwickelte sie unmittelbar.

„Marktreife“ Ergebnisse erzielte die Ballonfotografie aber erst Ende der 1870er Jahre mit der sogenannten Trockenplatte, die Veröffentlichung erster deutscher Ballonaufnahmen datierte 1886. Im Weiteren obwaltete dennoch Stagnation, da sich insbesondere das bis dato treibende Militär als Förderer zurückhielt. Neues Interesse entfachte die dynamische Aerofotografie erst wieder 1909, im Umfeld der Internationalen Luftschifffahrts-Ausstellung in Frankfurt am Main sowie im Kontext der Etablierung lenkbarer Luftschiffe und erster Flugzeuge, ohne dass sie bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges einen signifikanten Entwicklungsschub erfuhr. Vor diesem Hintergrund käme einer 1903 gemachten Luftaufnahme der Warnow-Mündung durchaus ein gewisser Sensationscharakter zu.

Die in Rede stehende Fotografie, neben der im Übrigen ein zweites ähnliches Motiv überliefert ist, entstand ohne Zweifel von einem deutlich erhöhten Punkt, den die natürliche Topografie von Warnemünde allerdings nicht hergibt. Der Blick des Fotografen fällt von oben schrägrechts auf die Warnow-Mündung mit ihren girlandengeschmückten Molen. Gut zu erkennen sind Menschenansammlungen auf West- und Mittelmole, ebenso der von der Westmole abziehende Rauch einer Ehrensalve. Im Fahrwasser befinden sich einige kleinere Schiffe, auf Höhe des Leuchtfeuers der Ostmole läuft einer der bis dato die Postdampferlinie Warnemünde-Gedser bedienenden Raddampfer ein und auf See befindet sich eines der neu in Dienst gestellten Fährschiffe. Wahrscheinlich handelt es sich um die „Friedrich Franz IV.“, deren Auslaufen das erwähnte zweite Motiv aus dieser Vogelperspektive zeigt.

Abb. 2: Der Alte Strom mit Mittelmole und Leuchtturm, vor 1907Details anzeigen
Abb. 2: Der Alte Strom mit Mittelmole und Leuchtturm, vor 1907

Abb. 2: Der Alte Strom mit Mittelmole und Leuchtturm, vor 1907

Abb. 2: Der Alte Strom mit Mittelmole und Leuchtturm, vor 1907

Das ist zugleich das Stichwort für die Charakterisierung der Fotografie. Zu erinnern ist zum einen, dass der Stand der Technik eine dynamische Luftaufnahme und zum anderen, dass die natürliche Topografie eine statische Aufnahme von schräg oben eher ausschlossen. Ungeachtet dessen war letztere natürlich vom höchsten Punkt des Ortes aus realisierbar. Wie eine Perspektivumkehr vom Ende der Mittelmole schnell verdeutlicht (Abb. 2), handelte es sich dabei um den fünf Jahre zuvor offiziell in Betrieb genommenen Warnemünder Leuchtturm mit einer Höhe von fast 37 m, von dem aus eine Schrägaufnahme der Warnow-Mündung aus der Vogelschau möglich wurde.

Dr. Matthias Manke

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