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Großbürgerliches Wohnen im Zeitalter des Historismus – ein Stralsunder Traufenhaus mit langer Geschichte*

Abb. 1. Hansestadt Stralsund, Mühlenstraße 7, 2024.Details anzeigen
Abb. 1. Hansestadt Stralsund, Mühlenstraße 7, 2024.

Abb. 1. Hansestadt Stralsund, Mühlenstraße 7, 2024.

Abb. 1. Hansestadt Stralsund, Mühlenstraße 7, 2024.

Die Altstadt Stralsund, bekannt als mittelalterliche Hansestadt, birgt einen großen Reichtum an Baudenkmalen auch späterer Epochen. In ihrem nördlichen Teil, unweit des Alten Marktes, in der Mühlenstraße 7, fällt ein eindrucksvolles Traufenhaus mit repräsentativer historisierender Fassadengliederung auf (Abb. 1). Es ist sehr viel älter als die Straßenfront vermuten lässt. Seine Bau- und Nutzungsgeschichte sei hier, soweit bekannt, in groben Zügen vorgestellt.

Bereits auf dem Staude-Plan, einer detailgetreuen Stadtansicht aus der Vogelperspektive, die 1647 entstand1 (Abb. 2), ist an der Stelle des heutigen Gebäudes – im nördlichen Abschnitt der Mühlenstraße (damals Breitschmiedestraße) – ein breites traufständiges Haus dargestellt. Gut erkennbar ist das große Grundstück, das sich durch den ganzen Baublock bis zur Schillstraße (damals Fischerstraße) erstreckt, der rückseitig anschließende Seitenflügel und im Innenhof ein Baum. Auch auf dem Lageplan der so genannten Schwedischen Matrikel, einem 1706/07 von der schwedischen Verwaltung zu Besteuerungszwecken angelegten Häuser-Verzeichnis, sind Gebäude und Grundstück eingezeichnet und sogar die heute noch vorhandene Säulenstellung vor der Fassade festgehalten.2

Bauherr dieses stattlichen Gebäudekomplexes war vermutlich der Ratsherr Nicolaus Dinnies, der 1587 als Hauseigentümer archivalisch nachgewiesen ist. Durch eine im Stralsunder Stadtarchiv erhaltene historische Fotografie ist der Zustand des Hauses vor dem Umbau dokumentiert (Abb. 3). Im Vergleich mit seinem heutigen Erscheinungsbild (Abb. 1) fällt auf: Die fünf Säulen auf hohen Postamenten, allerdings mit glatten Schäften, der außermittige Eingang, die großen Erdgeschossfenster und das darüber liegende Gesims sind bereits vorhanden. Statt der heutigen Beletage und dem niedrigen Drempelgeschoss hatte das Gebäude ursprünglich jedoch zwei gleich hohe, relativ niedrige Obergeschosse. Sie wurden als Speicherraum genutzt, worauf ihre Holzläden anstelle von Fenstern hinweisen. In dem hohen Satteldach befanden sich zum Zeitpunkt der Aufnahme drei – vermutlich in der Barockzeit eingebaute – Fledermausgauben.

Für seine Entstehungszeit, das spätere 16. Jahrhundert, handelte es sich um ein außergewöhnliches Gebäude in Stralsund, denn der mittelalterliche Stadtgrundriss war durch ein fest gefügtes System von Hausparzellen geprägt, die durch Brandmauern voneinander getrennt waren. Zur Zeit der Renaissance gab es nur wenige Fälle, in denen Bauherren zwei nebeneinanderliegende Grundstücke zusammenfassten und mit einem breiten Haus bebauten. Ratsherr Dinnies war einer von ihnen. Für seinen ehrgeizigen Neubau nutzte er zwei Giebelhausparzellen – als Zeugnis der Vorgängerbebauung ist im Keller noch die mittelalterliche Trennwand in Resten erhalten. Es handelt sich hier um eines der frühesten parzellenübergreifenden Traufenhäuser in der Stralsunder Altstadt, bevor dieser Bautypus später zur Schwedenzeit, besonders im 18. Jahrhundert, häufiger wurde und in Einzelfällen sogar drei oder vier Grundstücke umfasste.

Knapp 200 Jahre nach der Errichtung des Hauses, im Januar 1871, stellten Johanna und Otto Brandenburg, die Kinder des im Juli 1870 verstorbenen Stadtsyndicus Arnold Brandenburg, bei der Stralsunder Baupolizei einen Antrag zum Durchbau des von ihrem Vater geerbten Hauses. Den Auftrag für das Bauvorhaben erhielt die damals renommierte Stralsunder Baufirma Dehmlow & Möllhusen. Ihr Fassadenentwurf hat sich in der Bauakte erhalten (Abb. 4). Wichtigste Änderung war die Zusammenfassung der beiden Speichergeschosse zu einer hohen hellen Beletage mit großzügiger Raumverteilung sowie die Neugestaltung der Straßenfront.

Wie die seit 1871 unverändert überkommene Fassade zeigt, handelte es sich bei dem Projekt der Geschwister Brandenburg um eine sehr aufwendige und zweifellos kostspielige Neugestaltung in historistischer Formensprache (Abb. 1). Insbesondere die hohen, paarweise angeordneten Fenster des neuen Obergeschosses sind durch dekorative Stuckbekrönungen und Brüstungsfelder mit Scheinbalustraden hervorgehoben. Auf den Säulen, nunmehr mit kannelierten Schäften und ionischen Kapitellen versehen, ruhen als schmuckvoller oberer Abschluss der Straßenfront Architrav, stuckierter Rankenfries, verkröpftes Konsolgesims und eine Dachbalustrade – eine prächtige, gleichwohl ausgewogene Fassadengestaltung des frühen Historismus mit seinen feineren, filigraneren Formen vor Beginn der sogenannten Gründerzeit.

Im Gebäudeinneren ist die Beletage durch die Großzügigkeit des Grundrisses und die aufwendige Ausstattung gekennzeichnet: Die vier jeweils zweiachsigen Räume an der Straßenfront und der repräsentative Saal an der Hofseite sind mit Deckenstuck geschmückt, wobei der Dekor von Kehlgesimsen und Deckenfelderung von Raum zu Raum variiert. Den Höhepunkt der Raumfolge bildet der Saal mit seiner neobarocken Ausgestaltung (Abb. 5). Über einem umlaufenden Holzpaneel sind die Wände mittels profilierter Rahmen in große Felder aufgeteilt, die Türen mit reichen Stuckbekrönungen und Supraportengemälden dekoriert (Abb. 6). Die Decke entfaltet durch das Zusammenspiel von stuckierten Rahmungen unterschiedlicher Form und farbigen Malereien spielender Putti mit allegorischer Funktion in barockisierender Manier eine besondere Pracht (Abb. 7).

Ohne nennenswerte Veränderungen späterer Zeit blieb das Obergeschoss in der einheitlichen Ausgestaltung von 1871 bewahrt. Dazu gehören auch die ebenfalls erhaltenen hohen zweiflügeligen Türen zwischen den Räumen, die Holzpaneele der Wände, ein hoher Kachelofen mit reich dekoriertem Aufsatz, die straßenseitigen Fenster mit den originalen Griffen. Ebenso aus der Umbauphase erhalten ist die Haustür (Abb. 8) sowie der komplette Flurbereich mit Schmuckfliesen, Wandgliederung und Windfangtür. Eine aufwendig gerahmte Tür führt zum Treppenhaus, auch dieses ist unverändert überliefert mit schmuckvollen, kannelierten Antritts- und Zwischenpfosten, schlanken gedrechselten Traljen, schneckenartig eingerollten Handläufen (Abb. 9) und dem originalen hohen Fenster an der Rückfront.

Über mehrere Jahrzehnte war in dem Gebäude die städtische Musikschule untergebracht. Saal und Räume der Beletage werden heute von einer Ballettschule genutzt.

Friederike Thomas


* Der Artikel basiert auf einem von der Verfasserin publizierten Katalogtext, in: Denkmalplan Stralsund. Recherchen und Analysen für die Pflege des Welterbes (hrsg. im Auftrag der Hansestadt Stralsund. Der Oberbürgermeister, untere Denkmalschutzbehörde; Thomas Helms Verlag), Schwerin 2013, S. S. 88-89.

1 Johannes Staude, Sciagrapiha Civitatis Stralsundensis Pomerania, 1647. Das Original befindet sich im Reichsarchiv Stockholm.

2 Michael Jager, Übersetzungen und Transkriptionen der Schwedischen Matrikel, Stralsund 1706/07 (maschinenschriftlich, 1978).

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