Denkmal des Monats Oktober 2024

Das Giebelbild „Florale Formen“ in Rostock-Schmarl: Inge Jastram im Spiegel ihrer architekturbezogenen Kunst

Abb. 1. Inge Jastram: „Florale Formen“, 1979, Nordgiebel, Willem-Barents-Str. 28 in Rostock-SchmarlDetails anzeigen
Abb. 1. Inge Jastram: „Florale Formen“, 1979, Nordgiebel, Willem-Barents-Str. 28 in Rostock-Schmarl

Abb. 1. Inge Jastram: „Florale Formen“, 1979, Nordgiebel, Willem-Barents-Str. 28 in Rostock-Schmarl

Abb. 1. Inge Jastram: „Florale Formen“, 1979, Nordgiebel, Willem-Barents-Str. 28 in Rostock-Schmarl

Aus dem Boden wachsende geschwungene Formen mit sich öffnender Blüte, aus der eine weitere Blüte erwächst, die überdies einen mit Früchten gefüllten Korb assoziiert, diagonal ins Bild gesetzte Ähren: in ihrer abstrakten Darstellung dynamisieren unterschiedliche, in verschiedene Richtungen strebende Formen den hoch aufragenden Bildraum des Giebelbildes in der Willem-Barents-Str. 28 in Rostock-Schmarl. In der mit Kontrasten spielenden Komposition von nicht genau bestimmbaren Wachsendem, erstrahlt das Motiv von Aufwärts-Strebendem und sich Öffnendem hell vor dunkleren und gedeckteren Tönen, die in den Hintergrund treten. Im Unterschied zum assoziierten barocken Füllhorn erscheint das Reiche und Überbordende durch den Giebel eines Plattenbaus in streng vertikaler Form gefasst. Das Fugenbild der Platten, das wie ein Vexierbild wirkt, unterstreicht diese Strenge (Abb. 1-2).

Weit wirkt das ca. 30 Meter hohe und 12 Meter breite Giebelbild „Florale Formen“ in den Stadtraum: über den angrenzenden Park mit dem „Schmarler Landgang“, vorbei an den Spitzen der gefalteten Dachkonstruktion, mit denen Ulrich Müther das Wohngebietszentrum in Rostock-Schmarl markierte und über die Hauptstraße Kolumbusring hinweg (Abb. 3). Es korrespondiert mit dem Giebelbild „Seefahrtssignale“ an der Ostseite einer kurvigen Plattenbauzeile Kolumbusring/Ecke Vitusstraße (Abb. 4-5). An der Westseite befand sich das Wandbild „Blumenstrauß“, das bei der Renovierung der Plattenbauten unter einer Wärmedämmschicht verloren ging. Seit Juli 2024 steht das Giebelbild „Florale Formen“, dessen abschließendes Attika-Band sich ursprünglich weiß zum Himmel öffnete, zusammen mit einem Teil der Architektur unter Denkmalschutz.

Die elfgeschossige Wohnscheibe mit Giebelbild an der Nord- und Terrassen an der Südseite wurde 1979 errichtet. Sie ist eine von insgesamt vier Elfgeschossern, die als Höhendominanten das in den 1970er Jahren erbaute Wohngebiet Schmarl bestimmen. Diese Hochhausscheibe, die avantgardistische Wohnhausutopien wie die Le Corbusiers reflektiert, wurde unter der Leitung des Architekten Peter Baumbach entwickelt und 1977 erstmals in Evershagen, Bertolt-Brecht-Straße 8-10 realisiert. Der Erstlingsbau dieses Typs gehört heute zum Denkmalbestand des Landes Mecklenburg-Vorpommern.

Er entstand auf der Grundlage der WBS 70-AR (Wohnungsbauserie 1970 – Anpassung Rostock) aus einem Sortiment beliebig kombinierbarer Segmente, die vom Wohnungsbaukombinat (WGK) Rostock selten ausgeführt wurden. Mitte der 1980er Jahre gelangte der Rostocker Hochhaustyp in die wachsende Großstadt Berlin-Hellersdorf/Kaulsdorf, wo seine Nordseite ebenfalls ein Giebelbild derselben künstlerischen Handschrift schmückt.

Schmarl entstand zwischen 1976 und 1984, nach Lütten Klein, Evershagen und Lichtenhagen mit ursprünglich 16.000 Einwohnern als kleinstes Neubaugebiet im Nordwesten der Stadt Rostock. Bei seiner Planung und Realisierung wurde der industrielle Wohnungsbau innovativ und ideenreich angewandt. Wie in anderen Großsiedlungen prägte Zeilenbebauung in spezifischer Form das geradezu bunte Rostocker Wohngebiet, dessen farbige Extravaganz städtebaulich in wohngebietsformende Rundungen gefasst ist. Funktional war die organisch wirkende Städtebaufigur eine architektonische Antwort auf das Klima und den scharfen Seewind. Die Schulen mit den Giebelbildern „Zahlen“ (Abb. 6) und „Buchstaben“ waren im verkehrsfreien Zentrum platziert. Betonfertigteile mit konkaven Einschnitten bildeten die oft von Künstlern gestalteten Trennwände für Mietergärten, die heute zunehmend verschwinden. Aufwendige Hauseingänge, Maisonettwohnungen und ornamentale Fassadengestaltungen sowie die reiche Ausstattung mit architekturbezogener Kunst gehörten zum Gestaltungsrepertoire des Wohngebiets.

Die gebürtige Naumburgerin Inge Jastram (*1934) hat dort 1979 das Giebelbild „Florale Formen“ und andere architekturbezogene Werke geschaffen. Wie wohl kaum eine andere Künstlerin hat sie mit ihrer architekturbezogenen Kunst die Städte im Norden der DDR geprägt. Nach ihrem Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee bei Arno Mohr (1910-2001) und Werner Klemke (1917-1994) wurde Rostock, die Geburtsstadt ihres Mannes, des Bildhauers Jo Jastram zum gemeinsamen Lebens- und Wirkungsort. Der Hafenstadt, die zwischen 1958 und 1982 künstlerische Heimat war, näherte sich die Grafikerin mit großem Interesse für Geschichte und Architektur: zuerst in Form von Gebrauchsgrafik, dann in architekturbezogenen Glasarbeiten bevor sie später in Form großformatiger Giebelbilder die Stadt auch stadträumlich gestaltete. Ihrer künstlerischen Arbeit widmet derzeit die Kunsthalle Rostock eine Retrospektive, in der anlässlich ihres Jubiläums erstmals ihr Gesamtwerk betrachtet wird, in dem ihre architekturbezogene Kunst eine wichtige Rolle einnimmt.

Wie Inge Jastram kamen viele Künstler in die aufstrebende Hafenstadt, so Feliks Büttner (*1940), Rudolf Austen (1931-2003) und Heinz Wodzicka (1930-2022), mit denen sie zusammen großformatige Wandgestaltungen realisierte. Das Wachstum Rostocks zog auch eine Nachwuchsgeneration von Architekten wie Peter Baumbach (1940-2022), Erich Kaufmann (1932-2003), Michael Bräuer (*1943) und Christoph Weinhold (1943-2021) in die Stadt, die neue Wohngebiete entwarfen und mit dem Büro für baugebundene Kunst zunehmend vor der Aufgabe standen, diese künstlerisch zu akzentuieren. Urban Wachsendes wie neue Wohngebiete, städtebauliche Ensembles, Stadtzentren und schließlich die Stadt als Ganzes sollten bezogen auf das Leben der Menschen in der Stadt künstlerisch gestaltet werden.

Der Weg der Grafikerin Inge Jastram zur architekturbezogenen Kunst folgte den repräsentativsten Bauprojekten der Zeit und den neuen Wohngebieten in Rostock bis nach Berlin: Südstadt, Stadtzentrum, Warnemünde, Lütten Klein (Abb. 7), Lichtenhagen, Schmarl, Berlin-Kaulsdorf und sogar Addis-Abbeba bezeichnen Orte, die sie im Zeitraum 1959 bis 1987 mit Gestaltungen wie Glasfenstern sowie Wand- und Giebelbildern in teilweise monumentalen Ausmaßen ausstattete. Überdies gehörte bespielbare Kunst zu ihrem Oeuvre, mit der die Kindereinrichtungen der neuen Wohngebiete geschmückt wurden. Die Stationen ihrer Entwicklung im Rahmen architekturbezogener Kunst führten von der Wandgestaltung der Ostseegaststätte im Rostocker Stadtzentrum über das figürlich-poetische Glasfenster „Märchen“ am transparenten Eingang der Kinderpoliklinik in der Rostocker Südstadt von 1965 und das gleichzeitig entstandene abstrakte Pendant „Blutspende“ am Institut für Transfusionswesen über heitere, teils surreale Wandmalereien und architektonisch strenge Raumgestaltungen bis zur sich auflösenden geometrischen Form am monumentalen Giebelbild in Berlin-Hellersdorf.

Diese spezifisch Rostocker Entwicklung, die im Stadtzentrum am Klinkerrelief „Möwenflug“ von Reinhard Dietrich erstmals erprobt wurde, bildet den gestalterischen Höhepunkt im Wohngebiet Evershagen. Auf die Wandbauweise übertragen, wurden nach Entwürfen des Künstlers im Betonwerk die einzelnen Platten komplett vorgefertigt und auf der Baustelle wie ein Puzzle zusammengesetzt. Dieses Verfahren wendete Inge Jastram mehrfach in Schmarl an, so 1976 und 1978 in Form der abstrakt-didaktischen Giebelgestaltungen „Zahlen“ und „Buchstaben“ an den aus dem Stadtbild verschwundenen Schulen sowie an den Giebelbildern „Florale Formen“, „Seefahrtssignale“ und „Blumenstrauß“, von denen letzteres nicht mehr wahrnehmbar ist. Es scheint, dass mit Zunahme der Präsenz ihrer Werke im Stadtraum der Abstraktionsgrad der Motive an Bedeutung gewinnt.

In den 1980er Jahren transformierte sie es mit ihrem letzten monumentalen Giebelbild nach Berlin-Hellersdorf/Kaulsdorf.

Für das letzte und größte Wohnungsbauprojekt der DDR, Berlin-Hellersdorf erhielt Inge Jastram den Auftrag zur künstlerischen Gestaltung, was ihre überregionale Wertschätzung auf diesem Gebiet kennzeichnet. Im Rahmen des Wohnungsbauprogramms entstanden dort bezirksspezifische Bauabschnitte. Für den Stadtbezirk, der auf die Dimension einer Großstadt anwachsen sollte, errichteten die Rostocker den Abschnitt Kaulsdorf-Nord,wo inmitten von fünf- und sechsgeschossigen Wohnblöcken sowie Straßen mit mecklenburgischen Ortsnamen eine leicht s-förmig geschwungene, elfgeschossige Wohnscheibe gleichermaßen Höhendominante und Zentrum bildet (Abb. 8). Am Nordgiebel des Terrassenhauses Rostocker Typs befindet sich das monumentaleGiebelbild „Komposition“, dessen abstrakt-geometrische Motive den Stadtraum beherrschen (Abb. 9). Das kompositorisch moderne Formenspiel diagonal stehender Quadrate in weißen, braunen und schwarzen Klinkern löst sich nach oben in Versatzstücke auf. Zusammen mit den fünf abstrahierend gestalteten Treppenhausgiebeln, die über die Bäume hinweg in den Stadtraum wirken, bildet das Giebelbild den gestalterischen Höhepunkt (Abb. 10-11).

Zwischen 1959 und 1989 schuf Inge Jastram teilweise großformatige Wandgestaltungen für prominente und gesellschaftlich relevante Bauten wie das Interhotel im Rostocker Zentrum, das Neptunhotel und den Teepott in Warnemünde, den Speisesaal von „Shanty-Jugendmode“ in Schmarl, das heutige Cliff-Hotel in Sellin auf Rügen, die Agraringenieurschule Zierow bei Wismar, das Amt für Wasserwirtschaft in Stralsund, um nur einige ausgewählte zu nennen.

Das Ende der DDR bedeutete künstlerisch eine Zäsur für Inge Jastram: Wandbilder waren wie das Wohnungsbauprogramm der DDR Geschichte. Die Auseinandersetzung mit ihrer architekturbezogenen Kunst bedeutet heute, den gelisteten Werken nachzuforschen, den Verlust vieler Werke nach 1990 festzustellen, den städtebaulichen Kontext zu rekonstruieren, die verwendeten Gattungen und Formate zu beschreiben und zu begrüßen, dass die Erhaltung von zwei ihrer architekturgebundenen Werke in Rostock im öffentlichen Interesse steht.

Der Architekturtheoretiker Bruno Flierl (1927-2023) stellte 1981 fest, dass Wandbild und Plastik in der DDR „zu akzentuierenden Elementen städtischer Räume geworden [seien], und dies in einem Maße, dass sie uns fehlten, wären sie nicht da.“1 Heute, über vierzig Jahre später, gewinnt die Frage an Relevanz angesichts der Tatsache, dass viele dieser Wandbilder nicht mehr da sind. Fehlen sie uns? Was ging mit den Wandbildern verloren, an Werten, an gesellschaftlichem Selbstverständnis, an Selbstbewusstsein?

Silke Dähmlow

Dieser Artikel basiert auf einem von der Verfasserin erstellten Text für den Katalogband der Kunsthalle Rostock anlässlich der Ausstellung „Inge Jastram, die Zeit treibt mich“ (21.09.2024-05.01.2025)


1 Bruno Flierl: Bildende Kunst im Stadtraum: Möglichkeiten und Grenzen, in: Bildende Kunst, hrsg.v. Verband bildender Künstler in der DDR, Heft 9, 1981, S. 424-430, S. 424

Ausgewählte Literatur:

Thorsten Goldberg, Ellena Olsen, Martin Schönfeld, Andreas Sommerer: Kunst in der Großsiedlung, Kunstwerke im öffentlichen Raum in Marzahn und Hellersdorf, eine Dokumentation, Hg. Bezirksamt Marzahn- Hellersdorf von Berlin, 2009

Andreas Lorenzen, Heidrun Lorenzen, Hans-Otto Möller, Jürgen Deutler: Bildende Kunst im Stadtbild von Rostock, hrsg.v. Rat der Stadt, Abt. Kultur, Rostock 1980

Reiner Mnich, Lutz Nöh: Rostock und Warnemünde – Bildende Kunst im Stadtbild, Rostock 2000 Hans-Otto Möller u.a.: Architekturführer der DDR – Bezirk Rostock, Berlin 1978

Katalog der IX. Kunstausstellung der DDR 1982/83. Ministerium für Kultur der DDR (Hrsg.) Verband bildender Künstler der DDR, 1982

Norbert Rommes: Arbeitsumweltgestaltung als komplexe Arbeitsaufgabe in Architektur der DDR 8/1988

Björn Rosen: Komplexer Wohnungsbau in Rostock, in: Vom seriellen Plattenbau zur komplexen Großsiedlung – industrieller Wohnungsbau in der DDR 1953-1990, hrsg.v. Philipp Meuser, Teil 2, Berlin 2022

Isolde Schmidt: Kunst in Rostock-Schmarl – eine Spurensuche, Rostock 2004

Matthias Schümann, Reiner Minch: Kunstwege. Spaziergänge durch Rostock und Warnemünde, Rostock 2006

Drinnen und draußen – Kunst im Norden der DDR, Hg. Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern und Vier-Tore-Stadt Neubrandenburg, Berlin 2024

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