Zwei Seiten einer Medaille - Die Wiekhäuser der mittelalter­lichen Stadtbefestigung in Neubrandenburg und der moderne Städtebau der DDR

Denkmal des Monats März 2017

Abb. 01. Neubrandenburg, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte, 2. Ringstraße, Wiekhäuser Nr. 16-12 (v.l.n.r.) (aus: K.-H. Biermann, Neubrandenburg, 1987).Details anzeigen
Abb. 01. Neubrandenburg, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte, 2. Ringstraße, Wiekhäuser Nr. 16-12 (v.l.n.r.) (aus: K.-H. Biermann, Neubrandenburg, 1987).

Abb. 01. Neubrandenburg, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte, 2. Ringstraße, Wiekhäuser Nr. 16-12 (v.l.n.r.) (aus: K.-H. Biermann, Neubrandenburg, 1987).

Abb. 01. Neubrandenburg, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte, 2. Ringstraße, Wiekhäuser Nr. 16-12 (v.l.n.r.) (aus: K.-H. Biermann, Neubrandenburg, 1987).

Die Stadtbefestigung von Neubrandenburg ist das seltene Beispiel einer vollständig erhaltenen mittelalterlichen Wehranlage. Kreisförmig umschließen doppelte Wälle und Gräben sowie eine Feldsteinmauer mit vielfältig gestalteten Toranlagen und Wiekhäusern den Stadtkern. Die Anlage von 2,3 Kilometer Länge stammt aus der Zeit um 1300. Mit ihrem 7,5 Meter hohen und zwischen 0,6 und 1,40 Meter starkem Mauerwerk gehört sie zu den schönsten Ensembles ihrer Art in Norddeutschland (Abb. 1-4).
 

Wiekhäuser als Wehrbauten

Eine Besonderheit dieser geschlossenen Befestigung bilden die so genannten Wiekhäuser. Dabei handelt es sich um Vorsprünge im Verlauf der Mauer zur Feldseite, also nach außen, angeordnet im Abstand von zumeist 30 Metern. Ein durchgehender Wehrgang entlang der Mauer war in Neubrandenburg nicht vorhanden. Wiekhäuser weisen in der Regel eine Breite von 7 Metern auf, waren ursprünglich zur Stadtseite offen und dienten der Verteidigung und Beobachtung. Eine gemauerte Treppe auf der Linken führte zu den Balkenlagen von drei Geschossen, ausgestattet jeweils mit Schießscharten und zum Teil versehen mit einem oberen Dachabschluss. Um sich die ursprüngliche Form eines mittelalterlichen Wiekhauses vorzustellen - keines ist im Bestand überliefert - sind zwei als Wehrbauten rekonstruiert worden, eines bereits im Jahr 1912 (Abb. 5). Die Wiekhäuser, in denen auch die nötigen Waffen lagerten, nahmen nicht nur für die Verteidigung eine wichtige Aufgabe wahr. Hier versammelten die Wiekhaushauptmänner Teile der Bürger, um Steuern zu erheben und Weisungen des Rates weiterzugeben. Die Herkunft des Wortes Wiek ist nicht sicher geklärt. Im niederdeutschen Sprachraum steht es als Wortendung für Zaun, in einer frühmittelalterlichen Schrift kommt es im Sinne von Befestigung vor.

Wiekhäuser als Wohnhäuser

Nach dem Dreißigjährigen Krieg, als die Stadtmauer durch den Fortschritt der Waffentechnik ihre Verteidigungsfunktion eingebüßt hatte, wurden die Wehrtürme zu Wohnhäusern umgebaut. Die ehemals offenen Geschosse erhielten Fachwerkwände, Fenster belichteten die Räume und Satteldächer bildeten den oberen Abschluss. Um die geringe Wohnfläche ein wenig zu vergrößern, kragten die oberen Geschosse hervor. Im Erdgeschoss war dies nicht erlaubt worden, um die Durchfahrt in den ursprünglich schmalen Gassen entlang der Mauer zu gewährleisten. Die so romantisch erscheinenden Häuschen auf der Mauer dienten als Behausung nur den ärmsten Schichten: Wenig natürliche Belichtung, niedrige Räume, eine enge Stiege und keine Hoffläche (Abb. 6).

Im Laufe der Zeit verringerte sich die Anzahl der nach heutigem Kenntnisstand ursprünglich 57 Wiekhäuser. Bereits im Mittelalter wurden zwei zu Fangeltürmen umgebaut, die der Verwahrung von Gefangenen dienten (Abb. 7). Am Ende des 19. Jahrhunderts mussten 6 Bauten den Mauerdurchbrüchen für neue Verkehrswege weichen, so für die neu angelegte Verbindung zum Bahnhof über die Stargarder Straße. Weitere Wiekhäuser fielen den Zerstörungen am Ende des Zweiten Weltkrieges zum Opfer, die auch zum Verlust eines großen Teils der Altstadt führten. 1950 bilanzierte die Zeitung "Der Demokrat", dass von den 27 vor dem Krieg bewohnten Wiekhäusern noch 11 in Nutzung seien und schloss in optimistischem Tone: "In dem Mauerstück beim Stargarder Tor hat ein Mutiger sich darangemacht, aus eigener Kraft in den Trümmern ein neues Haus erstehen zu lassen, schlicht und klein, aber praktisch." Der Denkmalpfleger und Stadtbaurat Erich Brückner, der schon 1912 den erwähnten Wehrbau rekonstruiert hatte, berichtete 1955 in einer Aufstellung unter dem Titel "Arbeiten der Denkmalpflege an Toren, Türmen, Mauern und Wiekhäusern der Bezirksstadt", welche Maßnahmen dringend notwendig seien: "Von noch erhaltenen 12 Wohnungen sind 2 wegen Baufälligkeit verlassen, so das heute noch 10 Wiekhäuser bewohnt sind, meist in Privatbesitz."

Verfall und neue Wertschätzung

Über Jahre und Jahrzehnte besserte sich der Zustand der Stadtbefestigung kaum. Daran änderte auch nichts, dass Brückner 1956 die Zentrale des Instituts für Denkmalpflege in Berlin in dringlichen Worten davon unterrichtete, dass kürzlich Teile der Mauer eingestürzt wären und dies mit dramatischen Fotos belegte (Abb. 8). Selbst eine detaillierte Bestandsaufnahme der Schäden, die der Mitarbeiter der Arbeitsstelle Schwerin des Instituts für Denkmalpflege, Serafim Polenz, 1963 anfertigte, brachte keine grundsätzliche Verbesserung, denn es kam nicht zur Umsetzung der geplanten Maßnahmen. Trotz des Verfalls blieben bis über die 1960er Jahre hinaus einzelne Wiekhäuser bewohnt (Abb. 9).

Erst Anfang der 1970er Jahre änderte sich die Situation aufgrund einer Vielzahl von Faktoren grundlegend. Das aufstrebende Neubrandenburg, 1952 zur Bezirksstadt erhoben und in der Folge als Sitz der Verwaltung und durch zentral verfügte Industrieansiedlungen begünstigt, war auf 50.000 Einwohner angewachsen und hatte seine Bevölkerung innerhalb von 40 Jahren verdreifacht. Planungen sahen für 1990 eine Gesamteinwohnerzahl von 100.000 vor. Für Zehntausende an zugewanderten Bürgern, die in neu errichteten Siedlungen am Stadtrand in seriell gefertigten Wohnungen lebten, sollte das Stadtzentrum als individueller Ort der Identifikation mit der neuen Heimat dienen. Einen besonderen Anlass dazu bot 1972 der 725. Jahrestag der Stadtgründung. Er sollte würdig begangen und dabei insbesondere das historische Erbe in den Vordergrund gerückt werden.

Zudem hatte sich in der gesamten DDR die vorherrschende Einstellung gegenüber historischen Bauten mit der Ära Honecker grundsätzlich verändert. Denkmale wurden nun als wichtige Elemente erkannt, die DDR sowohl innen- als auch außenpolitisch als eigenständigen Nationalstaat zu präsentieren. Dies galt nicht nur für die historischen Bauten in Berlin und Dresden, deren Sanierung oder Wiederaufbau begann. Auch die Neubrandenburger Stadtbefestigung zählte nun zu den national bedeutenden Werken, was wenig später zur Eintragung in die neu geschaffene zentrale Denkmalliste der DDR führte.

Rekonstruktion und moderner Städtebau

Die Neubrandenburger Stadtarchitektin Dr. Iris Grund, die mit dem 1965 errichteten Haus der Kultur und Bildung eine viel beachtete Dominante in modernen Formen für die Innenstadt entworfen (Abb. 10) und 1970 ihr Amt angetreten hatte, plante und organisierte die bauliche Rekonstruktion der Wiekhäuser, indem sie die Finanzierung der Maßnahmen und die Nutzung der Gebäude durch öffentliche Einrichtungen und Betriebe sicher stellte. Häufig umfasste dies auch die Beschaffung von schwer erreichbaren Baumaterialien und Handwerkerleistungen auf halb legalen Wegen. Die ersten beiden, 1971 und 1972 fertig gestellten Wiekhäuser dienten der Neubrandenburg-Information und dem erst kurz vorher geründeten Literaturzentrum des Bezirks (Abb. 11). Nach und nach entstanden bis 1991, also über die politische Wende hinaus, weitere 22 Rekonstruktionen von Wiekhäusern. Die Nummerierung der rekonstruierten oder in anderen baulichen Zuständen vorhandenen Wiekhäuser – unter anderem als Mauernischen oder Vermauerungen - verläuft entgegen dem Uhrzeigersinn ausgehend vom Friedländer Tor.

Bei den neuen Wiekhäusern aus der Zeit der DDR handelt es sich um weitgehende Rekonstruktionen, die mit den vormaligen, durch Fotos bekannten Zuständen eine mal mehr oder mal weniger starke Ähnlichkeit aufweisen. Der vorhandene Bestand an Holzbauteilen, wohl zumeist aus der Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts, wurde dafür gänzlich abgebrochen. Lediglich die mittelalterlichen Mauernischen erhielten Wertschätzung und blieben in der Regel bewahrt – wobei allerdings auch hier abgebrochen und neu errichtet wurde, wenn es den Arbeitsablauf erleichterte. In den ersten Jahren spielte bei der Rekonstruktion der ursprünglich vorhandene Bestand, ob vor Baubeginn noch vorhanden oder durch historische Fotografien bekannt, eine sehr geringe Rolle. Die Frage, ob die neuen Wiekhäuser 2- oder 3-geschossig errichtet werden sollten, beantwortete man allein hinsichtlich der beabsichtigten Wirkung der geplanten Rekonstruktionen auf die Gesamtheit der Stadtmauer. So forderte die vorgelegte Konzeption, im Bereich der großen Stadttore die Häuser lediglich zweigeschossig zu errichten, um die monumentale Wirkung der Tore nicht zu beeinträchtigen.

Rekonstruktion und Budenzauber

Zwischenzeitlich kamen neue Überlegungen zum Umgang mit den Bauten auf. So legten Dr. Iris Grund und der Schweriner Architekt Heinrich Handorf dem Institut für Denkmalpflege in Berlin 1975 Entwürfe eines würfelförmigen Wiekhauses vor, dessen Umsetzung als neue Zutat deutlich erkennbar gewesen wäre. Dies wurde strikt abgelehnt: "Falsche Experimente können wir uns nicht leisten."

Erst später, im Jahr 1985, veränderte sich die Vorgehensweise grundlegend. Die Denkmalpfleger aus Berlin erhoben nun fachlichen Einspruch gegen die Praxis der Rekonstruktion in Neubrandenburg. "Jede nicht begründete Zutat", so hieß es, "mindert den Wert der Stadtmauer … Keinesfalls darf der Eindruck von 'Budenzauber' entstehen." Als 1987 auf dieser, den Bestand berücksichtigenden Grundlage eine neue Konzeption für den Umgang mit den Wiekhäusern verabschiedet wurde, waren jedoch bereits 16 Bauten fertig gestellt oder in Arbeit. Bei lediglich 8 der Bauten kam die neue Leitlinie, den ursprünglichen Bestand bei der Neuerrichtung detailliert zu beachten, noch zur Anwendung. Wobei allerdings auch weiterhin der gesamte hölzerne Bestand vorher abgebrochen wurde.

Resümee

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die in der Zeit der DDR rekonstruierten Wiekhäuser einen eigenständigen und eigenartigen Akzent in der jahrhundertelangen Geschichte der Neubrandenburger Stadtbefestigung setzen (Abb. 12-14). Geschichtlich bedeutsam und erklärbar sind die Wiekhäuser lediglich in einem Teilaspekt als Beispiele der damaligen Denkmalpflegepraxis. Sie sind in erster Linie Zeugnisse dafür, wie im städtebaulichen Gesamtkonzept der aufstrebenden Bezirkshauptstadt Neubrandenburg der Versuch unternommen worden ist, die Innenstadt und ihre historischen Bauten als Identifikationsort für die vielen neu zugezogenen Bürger zu gestalten. Während an den Rändern der Stadt in Plattenbauweise Großsiedlungen zum Wohnen entstanden, sollte der alte Stadtkern mit romantisch und malerisch anmutenden Häusern in der Stadtmauer für die Verbundenheit mit der neuen Heimat sorgen. Die 24 in aufwendiger Handwerksarbeit rekonstruierten Wiekhäuser in der Altstadt waren die eine Seite der Medaille, deren andere der moderne Städtebau mit den Mitteln und Formen des industriellen Bauens war.

Dr. Jörg Kirchner

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