Denkmal in Gefahr: Das Sauerstoffwerk in Peenemünde

Denkmal des Monats Dezember 2017

Abb. 1. Peenemünde, Lkr. Vorpommern-Greifswald, Sauerstoffwerk, Blick von Norden, 2014.Details anzeigen
Abb. 1. Peenemünde, Lkr. Vorpommern-Greifswald, Sauerstoffwerk, Blick von Norden, 2014.

Abb. 1. Peenemünde, Lkr. Vorpommern-Greifswald, Sauerstoffwerk, Blick von Norden, 2014.

Abb. 1. Peenemünde, Lkr. Vorpommern-Greifswald, Sauerstoffwerk, Blick von Norden, 2014.

Das Sauerstoffwerk in Peenemünde gehört zum ehemals größten militärisch-industriellen Forschungskomplex des nationalsozialistischen Deutschlands, den ehemaligen Versuchsanstalten in Peenemünde. Hier arbeiteten zeitweise bis zu 12.000 Menschen, darunter Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, an der Entwicklung, am Bau und am Test neuer Waffensysteme. Zu den wichtigsten Entwicklungen zählte das Aggregat 4 (A4), eine flüssigkeitsbetriebene Großrakete, die von den Nazis als Vergeltungswaffe 2 (V2) propagiert und als Terrorwaffe im Krieg eingesetzt wurde.

Frühere Raketenantriebe basierten auf Feststoffen, aber erst mit der Entwicklung und der beharrlich vorangetriebenen Perfektionierung des Flüssigkeitsantriebs gelang es, die Reichweite der Raketen erheblich zu erhöhen. Seine Hauptkomponenten sind flüssiger Sauerstoff und Ethanol. Ersterer ist so flüchtig und explosiv, dass er für eine gesicherte Versorgung vor Ort hergestellt werden musste. Bereits im Juni 1939 ging im Norden der Versuchsanstalten ein kleines Sauerstoffwerk in Betrieb, das bis zu 24 t flüssigen Sauerstoffs am Tag produzierte. Da nach Kriegsbeginn abzusehen war, dass seine Kapazität nicht ausreichen wird, begannen ab Oktober 1939 Vorbereitungen für den Bau eines größeren Sauerstoffwerks nicht weit vom Kohlekraftwerk. 1943 nahm es die Produktion auf. Bis zu 60 t am Tag konnten nun produziert werden. Die Verflüssigung erfolgte nach dem Linde-Verfahren und erforderte einen hohen Einsatz von elektrischer Energie, die das Kraftwerk bereitstellte. Zwei Drittel seiner Leistung wurden allein für das Sauerstoffwerk benötigt.

Das Sauerstoffwerk ist ein monumentaler Stahlbetonskelettbau mit Mauerwerksausfachungen, der zeittypisch mit Klinkern verblendet ist (Abb. 1). Bei einer Höhe von 20,80 Metern hat es eine Grundrissausdehnung von 73,10 x 42,60 Meter. In der Grundstruktur folgt das Gebäude dem Typus einer Basilika, das als fünfschiffiger Raum auf rechteckigem Grundriss mit erhöhtem Mittelschiff konzipiert ist (Abb. 2). Die Fassadengliederung ist konsequent aus den statischen und funktionalen Erfordernissen entwickelt. Die Giebelseiten werden durch bündig und axial in die Fassade eingeschnittene Zugangs- und Belichtungsöffnungen strukturiert. Die Traufseiten weisen darüber hinaus flache Vorlagen auf, die strebepfeilerartig vor den Haupt- und Nebenstützen des Tragsystems liegen und die gigantischen Wandflächen in Haupt- und Nebenfelder gliedern (Abb. 3). Zehn Transformatorenkammern, die der Spannungsumwandlung für den vom Kraftwerk gelieferten Strom dienten, sind an die Nordostseite und ein kleines Eingangsbauwerk an die Südostseite angefügt. Flach überstehende Satteldächer schließen das Bauwerk nach oben ab, in dessen hohem Mittelschiff sich die Kranbahn befand (Abb. 4). Der Produktionsprozess fand in den nordwestlichen drei Schiffen statt, nach Südosten folgten die Speicher- und die Verladezone.

Die Architektur des Sauerstoffwerks ist von großer Wucht, Schlichtheit und Klarheit. Die basilikale Gestalt und die strebepfeilerartigen Vorlagen können als Rückgriff auf tradierte Formen interpretiert werden, wie er im Industriebau nicht unüblich war. Sie sind jedoch konsequent in eine moderne, dem funktionalen Bauen verpflichtete Architektursprache überführt. Dies war in der NS-Zeit nur im Industriebau möglich.

Der Wert des Peenemünder Sauerstoffwerks ist vielschichtig. Er betrifft einerseits das Bauwerk in seinem materiellen Befund. Andererseits birgt der Bau durch seine funktionale Zugehörigkeit zu den Versuchsanstalten wichtige Informationen, die untrennbar mit der jüngeren deutschen Geschichte verbunden sind.

Seine gestalterische Qualität, fortschrittliche Architektur und außergewöhnliche Dimension machen ihn trotz seiner Überlieferung als Ruine zu einem herausragenden Beispiel der Industriemoderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Obendrein ist er nach derzeitigem Kenntnisstand der einzig erhaltene Großbau dieser Baugattung und Zeit. Anhand der erhaltenen Strukturen und Relikte können noch immer die Produktions- und Transportabläufe am authentischen Ort nachvollzogen werden (Abb. 5-7).

Das Bauwerk führt bis heute bildlich vor Augen, welche gewaltigen Mengen flüssigen Sauerstoffs hier für die Perfektionierung des A4 produziert worden sein müssen. Dabei ist nicht zu vergessen, dass die auf höchstem technischem Niveau arbeitenden Versuchsanstalten im Dienst des totalen Kriegs standen und Leidens- und Todesstätte zahlreicher Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge waren. Hinzu kommen die tausenden Todesopfer, die die Produktion und der Kriegseinsatz des A4 zur Folge hatten. Diese Verknüpfung von technischem Fortschritt, kriegerischer Gewalt und der Vernichtungspolitik der NS-Diktatur bezeugen die ehemaligen Versuchsanstalten heute noch in herausragender Weise.

Als einzig erhaltene Großbauten sind das Sauerstoffwerk und das Kraftwerk in technisch funktionaler, städtebaulicher sowie in gestalterischer Hinsicht die Schlüsselbauten für die ganzheitliche Auseinandersetzung mit diesem Ort und für das Verständnis der vielschichtigen Aspekte, für die die ehemaligen Versuchsanstalten in Peenemünde stehen. Ihr Zeugnis- und somit Denkmalwert beruht auf ihrem hohen geschichtlichen, architekturgeschichtlichen, wissenschaftlichen und städtebaulichen Wert. Hieraus resultiert das hohe öffentliche Interesse an ihrem Erhalt, das weit über Mecklenburg-Vorpommern und die Bundesrepublik Deutschland hinausgeht.

Wegen jahrzehntelang unterbliebener Sicherung hat sich der Bauzustand der Ruine des Sauerstoffwerks derart verschlechtert, dass sie gegenwärtig eine Verkehrsgefährdung darstellt. Ein vom Land finanziertes Schadensgutachten schätzt die Kosten für eine auf das Nötigste beschränkte Bestandssicherung auf über 2 Mio. Euro. Kosten, die die Gemeinde Peenemünde als Eigentümerin nicht tragen kann und die dazu führten, einen Abbruch dieses herausragenden Zeugnisses, der ebenfalls mit circa 2 Mio. Euro zu veranschlagen ist, ernsthaft zu erwägen. Es ist alarmierend, dass hierfür öffentliche Fördermittel in Aussicht sind.

Der Wert des Sauerstoffwerks ist nicht in Geld aufzuwiegen. Die Dimension des Bauwerks und der geschichtliche Kontext sind unbequem. Er macht den Ort indessen besonders. Nicht zuletzt wurde Peenemünde durch das Historisch-Technische Museum (HTM) im Kraftwerk zu einer international beachteten Destination des Kulturtourismus, das Herausragendes bei der Vermittlungsarbeit leistet und dessen Existenz ein gelungenes Beispiel für die Überwindung von anfänglich unüberwindbar scheinender Schwierigkeiten ist. Seither zog Peenemünde mehr als 5 Mio. Besucher an. Der tourismuswirtschaftliche Erfolg des Orts ist deshalb aufs engste mit seiner Geschichte und der Qualität der örtlichen kultur- und bildungstouristischen Angebote verbunden. Der Erhalt und eine kulturtouristische Nutzung des Sauerstoffwerks für die öffentlichkeitswirksame Geschichtsvermittlung trägt nicht nur der gesellschaftlichen Verantwortung Rechnung. Auch die touristische Attraktivität des Ortes würde maßgeblich erhöht. Konzepte für die aktive Einbindung in die Vermittlungsarbeit des HTM liegen vor. Nun steht die Herausforderung, Mittel und Wege zu finden, sie umzusetzen. Die Verantwortung hierfür liegt nicht allein bei der Denkmalpflege sondern bei allen gesellschaftlichen Akteuren: der Zivilgesellschaft, der Politik und der Wissenschaft.

Annette Krug

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