Der Architekt Paul Bonatz und das Getreidesilo im Rostocker Hafen von 1935. Ein Vorratsbau für den Krieg zwischen Monumentalität und Heimatstil

Denkmal des Monats Januar 2021

Abb. 1. Blick auf den östlichen Teil des Rostocker Stadthafens mit Speicher, Ende 1930er Jahre, Karl Eschenburg,Details anzeigen
Abb. 1. Blick auf den östlichen Teil des Rostocker Stadthafens mit Speicher, Ende 1930er Jahre, Karl Eschenburg,

Abb. 1. Blick auf den östlichen Teil des Rostocker Stadthafens mit Speicher, Ende 1930er Jahre, Karl Eschenburg,

Abb. 1. Blick auf den östlichen Teil des Rostocker Stadthafens mit Speicher, Ende 1930er Jahre, Karl Eschenburg,

Wenn man sich dem Strande nähert, so sieht man schon von weither den Hochbau des Getreide-Silo-Neubaues die ganze Hafengegend überragen, wodurch das Rostocker Hafenbild ein verändertes Aussehen erhalten hat. Wie ein gewaltiger trutziger Turm wirkt er mit seinen farbigen Ziegelwänden. Und wenn man dann dicht am Fuße dieses Riesenbauwerkes steht, so muss man den Kopf tief in den Nacken legen, damit das Auge die volle Höhe erfassen kann. Der Silo besitzt eine Höhe von 40,40 Meter […].

Am 1. September 1935 beginnt der Rostocker Anzeiger in staunendem Ton seinen Bericht über die Fertigstellung des größten Neubaus der Stadt. Darin ist von "der" Silo die Rede, während man heute eher "das" Silo sagt. Eine Aufnahme aus dem Ende der 1930er Jahre von Karl Eschenburg (1900-1947), dem Foto-Chronisten Rostocks, zeigt das Silo, das seit seiner Vollendung einen entscheidenden Akzent beim Blick auf die Hafenstadt bildet (Abb. 1). Bis dahin prägten ausnahmslos Kirchtürme die Silhouette der Hafenstadt, wie eine Ansichtskarte von 1910 für unseren Fall zeigt (Abb. 2). Bis heute ist das Silo, später als Silo 2 bezeichnet, in Substanz und Erscheinung weitestgehend ursprünglich erhalten.

Nicht allein die schiere Größe charakterisiert den Bau, an dessen Südfassade ursprünglich auch ein Hakenkreuz angebracht war (Abb. 3). Bestimmend ist bis heute sein prägnant gestaltetes Dach mit Haupt- und Seitengiebeln, das ein Drittel der Gesamthöhe einnimmt (Abb. 4). Es geht auf die Gestaltung eines der berühmtesten und einflussreichsten Architekten im Deutschland jener Zeit zurück: Paul Bonatz (1877-1956), Professor an der Technischen Hochschule Stuttgart und gemeinsam mit seinem Kollegen Paul Schmitthenner (1884-1972) Hauptvertreter der so genannten Stuttgarter Schule. 

 
Konstruktion und Bauweise

Bei der Konstruktion des Silos handelt es sich um eine Stahlbetonrahmenkonstruktion, in die die eigentlichen, sich teilweise über alle Obergeschosse erstreckenden und unten trichterförmig gestalteten Silozellen eingefügt sind. Die Backsteinfassaden der Obergeschosse und der Giebel sind lediglich nicht tragende Verblendungen. Die Konstruktion des Silos ist in einer Mischung aus Gleitbau- und Montagebauweise errichtet worden. Wesentlich für die kostengünstige Erstellung eines Silos ist die Gleitbauweise hinsichtlich der umfangreichen Wandflächen der Silozellen. Bei der Gleitbauweise, die erst seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verbreitet Anwendung fand und in Deutschland 1927 erstmals zum Einsatz kam, "wandert" die hölzerne Schalung für den armierten Betonguss mit dem aufgeführten Bau nach oben und kann dort wieder verwendet werden. Sie ist nicht nach jedem Abschnitt verloren.

 
Funktionsweise und Technik

Das Getreidesilo in Rostock ist ein typisches Bauwerk zur Speicherung von trockenen, feinkörnigen und schüttbaren Gütern. Die in Massen angelieferten Güter, in unserem Falle Getreide, werden darin bearbeitet – unter anderem getrocknet, belüftet, gemischt oder gereinigt –, sonnengeschützt, trocken und sicher vor Schädlingsbefall gelagert und nach kurzer, mittlerer oder längerer Zeit wieder abtransportiert. Zur Befüllung gelangt das Getreide über Förderwerke ins Dachgeschoss. Im dortigen Maschinenraum, dem Herz des Silos, findet die Verteilung der Waren auf die einzelnen Silozellen und das vorherige Wiegen der jeweiligen Einheiten statt. Zwei dieser großen zentralen Verteilstellen sind im Dachraum erhalten (Abb. 5).

 
Silobauten

Den entscheidenden Fortschritt für die Entwicklung von Silobauten brachte im dritten Drittel des 19. Jahrhunderts der innovative Einsatz des so genannten Eisenzements mit sich. Die ersten großen Bauwerke entstanden in Süd- und Nordamerika, auch unter Mitwirkung deutscher Baugesellschaften wie der Wayss & Freytag A.G., die die wissenschaftliche Erforschung des Betonbaus – oder Betoneisenbaus wie es anfangs hieß – vorantrieben. Die Nutzbauten wurden demonstrativ in funktionalistischer Weise gestaltet. Das Betonieren war aufwendig und bei hohen Zementpreisen wurde kurzfristig die Ausführung auf Verfahren in Stein auf Stein umgestellt, wie ein Beispiel aus dem argentinischen Buenos-Aires von 1918 zeigt (Abb. 6).

Die Entwicklung des Silobaus in Deutschland führte jedoch in der Mehrzahl zunächst nicht zu modern oder funktionalistisch gestalteten Bauten. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde hingegen in der Regel der Versuch unternommen, die großen Bauten durch gegliederte Backstein- oder Putzfassaden und ziegelgedeckte Sattel- oder Walmdächer so zu gestalten, dass der technische Charakter des Baues in den Hintergrund rückte. Sie sollten im Sinne des Heimatschutzes möglichst mit der Umgebung hinsichtlich des Materials in Einklang gebracht werden.

 
Paul Bonatz: Monumentalität und Heimatstil

Eine qualitative Weiterentwicklung dieser im Stil eines gemäßigten Historismus oder des Heimatschutzes errichteten Bauten ist der 1935 fertig gestellte Getreidespeicher im Stadthafen von Rostock. Die entscheidende Prägung erhielt der Baukörper durch die Gestaltung des erst in später Phase hinzugezogenen Architekten Paul Bonatz. Bonatz verband die den Einklang mit der Umgebung suchende heimatliche Formen- und Materialsprache mit monumentalen, historischen und funktionalistischen Elementen. So verweist er durch mächtige Quergiebel auf historische Speicherbauten und betont gleichzeitig durch das hohe Dach in funktionalistischer Weise die Tatsache, dass das wichtigste Wirken in einem modernen und durch Förderanlagen geprägten Silo von oben, aus dem Dach heraus, gesteuert wird.

Eine frühe Studie zum Rostocker Bau stammt von Harald Roth (1910-1991), Mitarbeiter in Bonatz‘ Büro und früherer Schüler. Sie enthält zwar wesentliche Merkmale, die auch den ausgeführten Bau kennzeichnen – so die deutlich eingerückte Erdgeschoss- und die stark ausformulierte Dachzone –, doch weist sie zu diesem auch Differenzen auf (Abb. 7).

Die staatliche Denkmalpflege tat sich verständlicher Weise schwer damit, solch einen starken Eingriff in das überlieferte Bild der Hansestadt zu akzeptieren. Der Denkmalpfleger Adolf Friedrich Lorenz (1884-1962) fertigte 1934 ein Schaubild an, um zu visualisieren, wie der neue Baukörper von nun an die Silhouette dominieren würde (Abb. 8). Aufgrund umfassenden politischen Drucks versagte Lorenz seine Zustimmung zu dem Vorhaben jedoch nicht.

 
Nationalsozialistische Agrarpolitik: Vorbereitung des Krieges

Die Erbauung des großen Silos im Rostocker Hafen ist nicht nur ein wichtiger Teil der städtebaulichen und architektonischen Entwicklung der Hansestadt. Der staatlich geförderte Bau von Silos in Deutschland – zu dessen frühester Verwirklichung derjenige in Rostock zählt – gehörte auch zur politischen Strategie der Nationalsozialisten für den kommenden Angriffskrieg. Dieser Krieg sollte nicht nur durch Rüstungsanstrengungen gesichert, sondern auch durch hinreichende Nahrungsmittelproduktion samt zugehöriger Lagerung erreicht werden. 1934 rief der Staatssekretär im Reichsernährungsministerium Herbert Backe die "Erzeugungsschlacht" aus, um durch umfangreiche Lebensmittelproduktion und Lebensmittelbevorratung Autarkie in Deutschland zu erreichen. Die Ernährungssicherheit wurde als kriegsentscheidender Faktor angesehen. Ab 1936 errichteten der Reichsnährstand und die Wehrmacht flächendeckend normierte und typisierte Speicher- und Silobauten.

 
Resümee

Das 1935 im Rostocker Stadthafen fertig gestellte Silo, später als Silo 2 bezeichnet, ist ein innovativer Lagerbau von besonderer Gestaltung. Das Engagement des deutschlandweit bekannten Architekten Paul Bonatz aus Stuttgart belegt den besonderen Wert der Bauaufgabe. Als Prototyp für eine Vielzahl nachfolgender Silobauten – darunter die sogenannten Reichstypenspeicher – dokumentiert er den hohen Rang der Nahrungsmittelbevorratung als Teil der nationalsozialistischen Kriegsvorbereitung. Der Silobau gehört zu den herausragenden neuzeitlichen Dominanten im Stadtbild Rostocks. Erstmals bestimmte ein Bauwerk neben den Türmen der Hauptkirchen die Silhouette der Stadt. In gestalterischer Hinsicht zeigt das Silo, dass hier eine Infrastrukturmaßnahme unter Rückgriff auf wiedererkennbare Grundformen historischer Speicherbauten in einer Verbindung von Monumentalität und Heimatstil umgesetzt wurde.

 
Hinweis

Eine ausführliche Fassung zu dem Thema, einschließlich weiterer Aspekte und dem Nachweis von Literatur und Quellen, ist veröffentlicht in der Zeitschrift "Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern", Heft 2, 2020.

Dr. Jörg Kirchner

Luftbild mit dem Getreidesilo

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