Heilige Pferde, heilige Rinder, heilige Hirsche: Neue Funde slawischer Tierfiguren aus Mecklenburg-Vorpommern

Fund des Monats Juni 2021

Abb. 1 Werder/Müritz, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte. Bronzene Tierfigur von einer spätslawischen Siedlung am Penzliner Stadtsee. Details anzeigen
Abb. 1 Werder/Müritz, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte. Bronzene Tierfigur von einer spätslawischen Siedlung am Penzliner Stadtsee.

Abb. 1 Werder/Müritz, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte. Bronzene Tierfigur von einer spätslawischen Siedlung am Penzliner Stadtsee.

Abb. 1 Werder/Müritz, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte. Bronzene Tierfigur von einer spätslawischen Siedlung am Penzliner Stadtsee.

Tier- und Menschendarstellungen gehören zu besonderen archäologischen Funden, die nicht nur die Fantasie anregen, sondern auch tiefe Einblicke in die Vorstellungwelten des vor- und frühgeschichtlichen Menschen ermöglichen können. Dies zeigen exemplarisch kleine metallene Figürchen slawischer Zeitstellung, die im Jahr 2020 entdeckt wurden.

Eine der Figuren wurde von B. Werner auf einer in slawischer Zeit besiedelten Halbinsel bei Werder/Müritz, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte, entdeckt, die im Mittelalter von einer Burganlage überbaut worden ist. In der Fundmeldung des Nestors der Mecklenburgischen und Vorpommerschen Archäologie, Ulrich Schoknecht, heißt es: "… Kleine vollplastische Rinderfigur (Abb. 1; L. 2,6 cm, H. 2,7 cm; Inv.-Nr. ALM 2020/648,1), mit ösenförmigem Hornaufatz kretischer Art. Die Beine sind geschlossen, die Muskelpartien strukturiert. Der Stummelschwanz wirkt für die Tierart unangemessen …". Die Verwendung des Begriffs "kretische Art" spielt auf die formalen Ähnlichkeiten antiker Figuren des Mittelmeerraumes, insbesondere von Stierfiguren des ägyptischen Apis-Kultes, an, die fast gleichartige Scheiben auf den Köpfen tragen.

Von Fpl. 1, einem Burgwall in der Gemarkung Vipperow, LKr. Mecklenburgische Seenplatte, sind in den letzten Jahren durch H. Kaiser, I. Grosser und D. Wulkau bedeutende Funde in unmittelbarer Ufernähe vor der erodierten Wallanlage gemacht worden (Fund des Monats Juli 2019: Versteinertes Eis – Eine Bergkristallfibel). Hierzu gehört auch die bronzene Figur eines Tieres (Abb. 2; H. 4,6 cm, L. 2,7 cm, Gewicht 25 g; Inv.-Nr. ALM 2020/11,2). Auf dem kräftigen Körper sitzt ein deutlich nach oben gewölbter Hals, der in einem kleinen Kopf mit seitlich gestellten Ohren endet. Auf dem Kopf steht eine runde Scheibe. Der Rumpf endet in einem nach oben ragenden Stummelschwanz. Die Beine sind ebenfalls nicht paarig dargestellt, sondern in säulenartigen Stümpfen zusammengefasst. Auffällig ist die Patinierung der Oberfläche, die sich deutlich von anderen Buntmetallobjekten dieses Fundplatzes unterscheidet und auf eine besondere Legierung hindeutet.

Auf einem niedergeackerten bronzezeitlichen Hügelgrab, Fpl. 90 der Gemarkung Garftitz, Lkr. Vorpommern-Rügen, fand R. Schön (Neunkirchen) bei einer Detektorsuche außer Fragmenten bronzezeitlicher Grabbeigaben auch eine kleine Figur (Abb. 3; L. 4 cm, H. 4,9 cm, max. Br. des Körpers 1 cm, Gewicht 36,4 g; Inv.-Nr. ALM 2020/179). Es handelt sich um die Darstellung eines Tieres mit langem Körper und hoch aufgewölbtem Hals, der etwas klobige Kopf mit seitlich gestellten Ohren ist nach rückwärts gewandt. Auf dem Kopf zwischen den Ohren befindet sich eine ovale Scheibe. Die kurzen Vorder- und Hinterbeine sind als Beinpaare jeweils zu einer Säule zusammengefasst. Die Hinterkuppe ist deutlich plastisch vom Rumpf abgesetzt und endet in einem nach oben aufgebogenen Stummelschwanz.

Kleine Tierfiguren aus Metall gehören, bei aller Seltenheit, zum Fundspektrum westslawischer Kultur. Zu den bereits bekannten Pferden von Wollin, Spandau, Krien und weiteren polnischen Figürchen sind nun noch drei weitere Pferde auf der Insel Bornholm (Abb. 4; Finn Ole Nielsen, Bornholms Museum Rønne, sei herzlich für die Hinweise, Fotos und Genehmigung zur Publikation gedankt) gefunden geworden. Ihr Vorkommen auf der dem slawischen Siedlungsgebiet unmittelbar benachbarten Insel verwundert nicht, gibt es doch zahlreiche Hinweise auf friedliche und kriegerisch gestimmte Koexistenz. Bei den meisten der bisher im nordwestslawischen Kulturraum gefundenen Figuren sind die typischen Merkmale eines Pferdes mehr oder weniger deutlich ausgeprägt. Der gewölbte Hals, der vorgewölbte Brustkorb und auch die z.T. aufgerichteten kurzen Schwänze – es könnte sich um kupierte Schwänze bzw. freigeschnittene Schweifrüben handeln – sind bei Hengsten äußere Merkmale von Erregung und Anspannung. Die Beine der verschiedenen Tiere sind variantenreich gestaltet, aber in der Regel immer säulenförmig zusammengefasst, oft in der Proportion zum Körper stummelförmig wirkend, selten zu lang. Zum Aufstellen der Figur sind sie oft nicht geeignet. Gelegentlich sind die Ohren plastisch und einzeln abgesetzt; oft aufmerksam nach vorne gerichtet. Die Darstellungsweise ist schematisch, selten korrekt proportional an der Natur orientiert. Dies macht eine Identifikation als Pferd manchmal spekulativ. Mit Ausnahme der Ringstempel auf der Figur von Wollin sind die Tierfiguren unverziert. In der technischen Ausführung, und dies gilt auch für die nachfolgend beschriebenen Tierfiguren mit Kopfscheibe, sind kantige Konturen eher üblich als eine Glättung der Oberfläche und nachträgliche Formungen. Vereinzelt sind sogar noch Feilspuren an der Oberfläche erkennbar, wie bei der Vipperower Figur.

Deutlich sind bei dem Brandenburger und dem Wolliner Pferd, dem Pferd aus Pawłowka sowie bei zwei der Bornholmer Tiere (Billesgravgård, Ladegård) die Konturen eines Sattels erkennbar. Entsprechende Darstellungen von Reitern dieser Pferde sind nicht überliefert. Reiter auf Pferden sind auf skandinavischer Kleinkunst, insbesondere Fibeln, seit der Vendelzeit üblich und auch aus dem vorpommerschen Plöwen, Lkr. Vorpommern-Greifswald, ist inzwischen eine skandinavische Fibel in Form eines gesattelten Pferdes) bekannt (dem Finder R. Schultz, Löcknitz, sei für die Vorabmeldung des Fundes herzlich gedankt). Letztere könnte damit in den Deutungskanon der slawischen Pferde passen. Eine kleine eiserne Pferdefigur stammt aus dem reichen Fundspektrum des frühmittelalterlichen Handelsplatzes bei Menzlin an der Peene. Offen ist, ob sie dort eher der skandinavischen oder der slawischen Bevölkerung zuzuordnen ist.

Grundsätzlich sehr ähnlich, aber von den Pferdefiguren zu unterscheiden, sind Tierfiguren, die auf dem Kopf eine Scheibe oder einen Ring tragen. Diese treten uns in den Neufunden von Garftitz, Vipperow und Werder nun in kurzer Zeit gleich dreifach entgegen. Die Kopfscheibe oder der Ring könnten als Aufhängevorrichtung verstanden werden, doch folgt diese Bekrönung offenbar einer tradierten Symbolik. Denn Ringe und Scheiben finden sich auf den Köpfen von Tierplastiken, wie sie auf polnischen Prachtsporen (z.B. Lutomiersk, Wrocław Ostrów Tumski, Cerkiewniku oder Ciepłe) prozessionsartig angeordnet sind (Abb. 5). Einige der Tiere blicken nach vorne, aber auch der nach hinten gewandte Kopf ist dargestellt. Zwar könnten auch Pferde gemeint sein, doch sind die physiologischen Merkmale mehrdeutig. L. Gardeła u.a. (2019) interpretieren diese Tiere als Vieh (gemeint sind Rinder, Schafe/Ziegen) und in einer schon lange bekannten Figur, die wie das gesattelte Pferd auch in Wollin gefunden wurde, hat der Archäologe W. Filipowiak gar die Darstellung eines Hirschen gesehen. Ein rückwärts blickendes Tier ist außerdem auf einem von I. Gabriel als Messerscheidenbeschlag von der Oldenburg (Holstein) in die Forschung eingebrachten Fundstück zu sehen. Sporen und Scheidenbeschlag zeigen übereinstimmender Meinung nach Szenerien und Verknüpfungen von Motiven, die zusammen als Darstellung slawischer Mythologie und Kosmologie gesehen werden. Zusammenfassend hat man sie deshalb auch als Götterbildbeschläge bezeichnet. Sie sind bildnerische Äußerungen der spirituellen Vorstellungen der Westslawen und werden, meist über jüngere schriftliche Quellen, als Darstellungen des dies- und jenseitigen Weltbildes gedeutet. Miniaturen von Pferden (?) auf wenigen Schläfenringen (z.B. Wodarg und Zirzow) könnten ähnliche Inhalte widerspiegeln.

Für Pferde und im speziellen Falle gesattelte Pferde sind die schriftlichen Quellen christlicher Biographen und Chronisten des westslawischen Raumes konkreter. In der Beschreibung slawischer Kultübungen werden Pferde nämlich immer wieder genannt. So beschreibt Thietmar von Merseburg im 11. Jahrhundert zum Tempel von Rethra, dem zentralen Heiligtum des Lutizenbundes und dem Stammesgott Svarozic oder Riedegost geweiht, eine besondere Handlung. Dort führten Priester bei der Vorbereitung von Kriegszügen ein besonderes, im Tempel gehaltenes Pferd über gekreuzte Lanzen und leiteten aus dessen Verhalten Orakel zum bevorstehenden Kriegsglück ab. Ähnliches wird vom zentralen Heiligtum der Ranen, der Tempelburg Arkona, berichtet. Auch dort führte ein Priester das gesattelte Tier über oder durch Lanzen. Den schriftlichen Quellen nach spielte die Vorhersage von Kriegsglück und günstigen Reisezeitpunkten eine Rolle. Zur Frage, ob der Ritt auf dem Tier nur dem dort verehrten Gott Svantevit oder auch dem Priester in vertretender Eigenschaft gestattet war, ist die Überlieferung uneindeutig. Die Chronisten des Pommernmissionars Otto von Bamberg berichten zudem über ein weiteres, der Überlieferung nach schwarzes Pferd, diesmal in einem Tempel bei Stettin. Auch dieses Tier wurde als Orakel eingesetzt. Aufschlussreich ist die Erzählung, dass einer der Teilnehmer des Missionszuges und Parteigänger Ottos sich in den Tempel geschlichen und den Sattel des Tieres als besonders machtvolles Symbol an sich genommen habe. Hier spiegelt sich in einem Ausschnitt deutlich die Psychologie der Missionierung wider, indem man die Kraft des christlichen Gottes gegen die des Stammesgottes öffentlich ausspielte.

Die aktualisierte Kartierung der Tierfigürchen (basierend auf P. Szcepanik 2019, Abb. 6) zeigt einen eindeutigen Schwerpunkt im westslawischen Siedlungsgebiet sowie auf der nahen Insel Bornholm. In Anbetracht der intensiven Detektorsuche durch ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger, gerade auf slawischen Siedlungsplätzen und Burgen in Mecklenburg-Vorpommern, dürfte die derzeitig vergleichsweise kleine Zahl von Figuren für dieses Gebiet durchaus repräsentativ sein.

Für die Pferde- und andere Tierfiguren ergibt sich eine räumliche Übereinstimmung mit den in den Schriftquellen genannten Einflussgebieten der Tempel und der Verwendung von Pferden als Orakel. Es liegt nahe, in den kleinen Pferdefiguren das materialisierte und konzentrierte Abbild der Macht von Stammesgöttern und ihrer Pferde zu sehen. Wo die kleinen Figuren hergestellt wurden, wer dies tat und wer die Macht der Tiere als Amulett bei sich trug, wissen wir noch nicht. Auch ob die Figürlichkeit vielleicht nur eine zeitlich abgrenzbare Episode war, ist unklar.

Nicht unerwähnt bleiben soll ein weiterer Interpretationsansatz, der in den Figuren Gewichte sieht. So fanden sich auf dem spätwikingerzeitlichen Thing-Platz bei Roma auf Gotland außer mehr als 240 Wägestücken auch mehrere Pferdefigürchen. Ob es einen Zusammenhang mit den meist aus dem hohen Mittelalter Norwegens bekannten figürlichen Gewichten, den "Haakons Pferdchen", gibt bzw. ob deren Tradition in die späte Wikingerzeit zurückreicht, ist aber noch unzureichend erforscht. Von den bei P. Sczepanik (2019) erfassten Pferdefiguren entsprechen die von Pawłówek, Kałdus und Tymawa mit langem Schwanzschweif, der angedeuteten Mähne und den vereinzelten Vorder- und Hinterbeinen eher den norwegischen Gewichten als slawischen Figürchen (Hochmittelalterliche Funde norwegischer Gewichtspferdchen aus Mecklenburg-Vorpommern).

Dr. C. Michael Schirren

Literatur:

Felix Biermann, Ein Götterbildbeschlag aus der Uckermark als Zeugnis mittelalterlicher Glaubensvorstellungen im nordwestslawischen Raum. Prähistorische Zeitschrift 89, 2015, 390-403.

Felix Biermann, Bischof Otto von Bamberg in Pommern. Die Missionsreisen und ihre Wirkung im archäologischen Bild. In: Felix Biermann und Fred Ruchhöft (Hrsg.), Bischof Otto von Bamberg in Pommern. Studien zur Archäologie Europas 30 (Bonn 2017), 97-148.

Leszek Gardeła, Kamil Kajkowski und Zdzisława Ratajczyk, Ostrogi zoomorficzne z Ciepłego. Zachodniosłowiański model kosmosu? Pomorania Antiqua XXVIII, 2019, 65-152.

Björn Gustafsson und Majvor Östergren, Weights and Values in the Gotlandic Heartland. Lund Archaeological Review 2019, 95-105.

Paweł Szczepanik, Nowe znalesisko miniaturowego konika z okolic Cedyni. Materiały Zachodiopomorskie Nowa seria XV, 2019, 283-304.

Paweł Szczepanik, Nowe znalezisko miniaturowego konika z okolic Tymawy, gm. Gniew. Pomorania Antiqua XXVIII, 2019, 197-212.

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