Eher Zeichen als Amulett? Ein Miniaturanker aus Usedom, Lkr. Vorpommern-Greifswald

Fund des Monats Juli 2018

Abb. 1: Miniaturanker (L. 3,2 cm) aus Usedom, Lkr. Vorpommern-Greifswald.Details anzeigen
Abb. 1: Miniaturanker (L. 3,2 cm) aus Usedom, Lkr. Vorpommern-Greifswald.

Abb. 1: Miniaturanker (L. 3,2 cm) aus Usedom, Lkr. Vorpommern-Greifswald.

Abb. 1: Miniaturanker (L. 3,2 cm) aus Usedom, Lkr. Vorpommern-Greifswald.

Im Juni 2016 stellte der Leiter der archäologischen Rettungsgrabungen in der Tempelburg Arkona auf Rügen, Fred Ruchhöft, das Fragment eines eisernen Stockankers als Fund des Monats vor). Dieser 6,2 kg schwere Fund, hoch über der Ostsee ausgegraben, gehört sicher zu den ungewöhnlichsten Objekten, die in der Tempelburg bislang zu Tage traten. Denn auch wenn "ein Anker ein Anker ist", so gibt erst der Fundkontext einen Hinweis auf seine letzte Verwendung. Getrennt vom Schiff war er hier offenbar seiner eigentlichen Funktion entledigt und sollte vielleicht, nachdem er z. B. Kriegsbeute wurde, als Rohmaterial umgearbeitet oder zu einer Opfergabe werden. Ob darüber hinaus diesem Anker auch eine symbolische Bedeutung zugemessen werden kann und wie diese ausgesehen hat, ist natürlich spekulativ.

Zwei Jahre nach dem Fund des Ankers hoch über der Ostsee entdeckte Sebastian John bei der archäologischen Begleitung von Straßenbaumaßnahmen am Rande der Stadt Usedom, Lkr. Vorpommern-Greifswald, ebenfalls einen Anker (Abb. 1, Inv.-Nr. ALM 2017/1284,43). Doch dieser ist wesentlich kleiner (Höhe 3,25 cm; Breite max. 3,5 cm, Dicke 0,4 cm) und nicht aus Eisen geschmiedet, sondern aus Blei gegossen und danach mit Hammerschlägen geformt. Am Schaftende ist eine feine Schnittlinie erkennbar, die vielleicht als Widerlager für eine Schnur diente. Das Fundstück weist die Merkmale des in dieser Form für das Frühmittelalter typischen Stockankers auf.

Der kleine Anker war offenbar durch frühere Bauarbeiten stratigraphisch umgelagert. Davon zeugen einige ebenfalls in spätmittelalterlich/neuzeitlichem Kontext gefundene spätslawische Gefäßscherben. Bekannt sind im Bereich der Peenestraße, die die sogenannte Wiek-Siedlung durchquert, mächtige Schichtpakete jüngerslawischer Zeitstellung. Sie gehören zu einer Fischer- und Handwerkersiedlung (Metallhandwerk, Kammmacherei) als Teil des großen frühmittelalterlichen Zentrums "Uznam" (siehe zu Usedom: Biermann 2004 und 2011). Die Auswurfzone dieser Siedlung wurde bei einer archäologischen Maßnahme im Winter 2016/17 südlich der Peenestraße schon dokumentiert.

Mit dem Usedomer Fund vergleichbare Miniaturanker waren der Forschung bis zur Erstvorlage der Funde aus Haithabu und Schleswig (Koktvedgaard-Zeitzen 2002) weitgehend unbekannt. Für das frühmittelalterliche Handels- und Handwerkszentrum Haithabu beschreibt sie zehn Miniaturanker und für Schleswig ein Exemplar, alle aus Blei (Abb. 2). Die Längen der in Haithabu gefundenen Anker variieren zwischen 10,5 und 3,5 cm. Somit gehört das Usedomer Exemplar zu den kleineren Vertretern dieses Typs.

Einige der Anker haben kleine Anhängeösen am Ende des Schaftes, bei anderen fehlt so eine Durchlochung. Die auffällige Konzentration an der Schlei und der Fund einer Gussform in Haithabu (Abb. 2 unten rechts) macht nach M. Koktvedgaard-Zeitzen eine lokale Produktion und an den Ort gebundene Verwendung sehr wahrscheinlich. Die chronologische Einordung differiert zwischen Haithabu (2. Hälfte des 9. Jahrhunderts oder später) und Schleswig (frühestens mittleres 11. Jahrhundert) allerdings beträchtlich.

Nach der Erstvorlage im Jahr 2002 ist die Zahl der Miniaturanker durch Neufunde weiter angestiegen und zeigt zusammen mit dem Usedomer Anker außerdem ein deutlich weiträumigeres Verbreitungsbild. Aus Strandby (Nordjütland) stammen zwei Miniaturanker aus Blei und im schwedischen Sigtuna fand man ebenfalls eines dieser Objekte (Tesch u. Vine 2003, 289, Abb. 9). Selbst für Haithabu hat sich die Zahl durch zwei Neufunde erhöht, davon einer aus einem Hausbefund (Anspach 2010, 55-58, 111-113 Taf. 7, 57-59, 62.67-68; Taf. 8, Taf. 9,1). Auch aus dem östlich von Usedom liegenden frühmittelalterlichen Handelzentrum Wolin ist inzwischen ein Miniaturanker aus Blei publiziert worden (Gardeła 2014, 113ff)

Von den ähnlich geformten, in großer Vielfalt gestalteten Amuletten in Form von Thorshämmern unterscheiden sich die Miniaturanker in erster Linie durch die aufwärts gebogenen spitzen Enden und die schlanke Gestaltung. Sie werden unter den Amulettobjekten der Wikingerzeit im Gegensatz zu den Thorshämmern aber nicht aufgeführt (Pedersen 2010). Amulette gelten als am Körper getragene Objekte, denen positive Kräfte und die Fähigkeit von Abwehrzauber zugesprochen werden. Zur Deutung der Miniaturanker hat M. Koktvedgaard-Zeitzen bereits einen ganzen Strauß von Möglichkeiten vorgeschlagen, ohne sich aber auf eine oder mehrere Deutungen explizit festlegen zu können. Eine Verwendung als Amulett unter paganen Vorzeichen wird zwar in Erwägung gezogen, doch wäre dann weniger der Anker als das Schiff im selbst Vordergrund zu sehen und der Anker vielleicht nur "pars pro toto". Er könnte beispielsweise stellvertretend für ein besonderes Schiff, eine maritime Legende/Sage oder ähnliches zu verstehen sein. Auch in der christlichen Symbolik ist der Anker bekannt: Unter den heiligen Märtyrern wird St. Clement mit einem Anker (er wurde der Legende nach mit einem umgebunden Anker ertränkt) als Attribut dargestellt. Über seine Verehrung im nördlichen Europa ist aber nichts bekannt. Da der Anker in der miniaturisierten Form im betreffenden Zeitraum nur im engeren Ostseegebiet auftritt, ist eine christliche (Be-)Deutung wohl unwahrscheinlich.

In einem profanen, visuell-kommunikativen Sinne könnten die Miniaturanker eine Bedeutung als Zoll/Abgabemarkierung von verschifften Waren gehabt haben. Aber auch eine Funktion als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe innerhalb des sozialen Gefüges einer Siedlungsgemeinschaft oder eines Handlungsraumes wird diskutiert. Im Fokus stehen hierbei insbesondere Gruppen, für die Seefahrt und Fernhandel eine Bedeutung hatten. Historische Quellen berichten seit dem 9. Jahrhundert von Kaufmannsgenossenschaften insbesondere friesischer Händler, die im 11. Jahrhundert sogar als Gilden bezeichnet werden. Einen der Interpretationsansätze von M. Koktvedgaard-Zeitzen aufgreifend, wird jüngst in den Miniaturankern aus Haithabu denn auch ein archäologischer Nachweis dafür gesehen, dass Zeichen derartiger Zusammenschlüsse im frühmittelalterlichen Handelsemporium zur Schau getragen wurden (Radtke 2017, 696 ff.). Die bekannten Fundpunkte der Anker liegen im hafennahen Bereich der Frühstadt. Die zeitliche Streuung umfasst rund 200-250 Jahre, wobei der älteste dendrochronologisch abgesicherte Nachweis eines Ankerfundes in einem Haus des letzten Viertels des 9. Jahrhunderts vorliegt, dessen Bauweise der Häuser aus dem friesischen Dorestad entspricht (Radtke 2017, 696-697). Der jüngste Fund aus Sigtuna wird von C. Radtke mit den durch Runeninschriften in die Jahrzehnte um 1100 dort nachgewiesenen friesischen Kaufmannsgilden in Verbindung gebracht.

Zu fragen bleibt, ob die kleinen Anker aus Blei wirklich als Abzeichen der Händler selbst, im Sinne von am Körper getragenen Objekten mit Zeichenfunktion, gedient haben. Vielleicht lassen sich die oben diskutierten Deutungen durch eine der Überlegungen von Koktvedgaard-Zeitzen (2002, 76) ergänzen, nämlich in den Ankern so etwas wie Zollmarken zu sehen. Könnte das konzentrierte Vorkommen in Haithabu und die leicht reproduzierbare Form in einem "profanen" Metall wie Blei vielleicht auch für die Praxis eines in mittelalterlichen Quellen als "Anc(h)oraticum" (lat. "Ankersteuer") bezeichneten Rechtsbrauches sprechen, für die die Miniaturanker nur der materielle Ausdruck waren?

Wie Haithabu, Schleswig und Sigtuna ist auch das als "Uznam" genannte Herrschafts- Handwerks- und Fernhandelszentrum, an der Stelle der heutigen Stadt Usedom gelegen, ein im 11. und 12. Jahrhundert in das Netz internationaler Beziehungen verwobener Ort gewesen. Hier trafen Händler und Handwerker, Krieger und Seeleute, Reisende und Einheimische aufeinander. Schiffe gehörten zu den wichtigsten Mitteln des Transports. Trotzdem bleibt der Miniaturanker auch nach der faszinierenden Deutung C. Radtkes ein rätselhaftes Objekt, das sich uns in seiner Bedeutung (noch) nicht endgültig offenbart.

Übrigens fanden – quasi nach dem Gesetz der Duplizität der Ereignisse – ebenfalls im Jahr 2017 die beiden ehrenamtlichen Bodendenkmalpfleger J. Kümmel und I. Westphal ein weiteres ankerförmiges Objekt aus Blei (Länge 3,3 cm; Breite 4,4 cm, Dicke 0,7 cm; Inv.-Nr. ALM 2017/1297). Sein Fundort liegt auf dem westlichen Peeneufer in der Gemarkung Hohendorf, Lkr. Vorpommern-Greifswald. Es ist allerdings gröber gestaltet als die anderen bekannten Anker (Abb. 3). Ein Zusammenhang mit einem Handelsplatz oder einer Siedlung kann nicht hergestellt werden, da es sich um einen Einzelfund handelt.

Dr. C. Michael Schirren

Literatur:

Anspach 2010: B. Anspach, Die Bleifunde von Haithabu. In: C. v. Carnap-Bornheim (Hrsg.), Studien zu Haithabu und Füsing. Ausgrabungen Haithabu 16 (Neumünster 2010), 13-128.

Biermann 2004: F. Biermann, Untersuchungen zum pommerschen Herrschafts- und Wirtschaftszentrum Usedom I: Die spätslawische Siedlung auf dem Usedomer „Mühlenberg“. Bodendenkmalpflege in Mecklenburg, Jahrbuch 2003, 51 (2004), 117-175

Biermann 2011: F. Biermann, Untersuchungen zum frühgeschichtlichen Wirtschafts-und Herrschaftszentrum Usedom III: Lesefunde vom Burgwall Bauhof. In: F. Biermann (Hrsg.), Der Peeneraum zwischen Frühgeschichte und Mittelalter. Archäologische Beiträge zur Siedlungs-und Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 14. Jahrhunderts. Studien zur Archäologie Europas 16 (Bonn 2011), 71-168.

Gardeła 2014: L. Gardeła, Scandinavian Amulets in Viking Age Poland, Collectio Archaeologica Ressoviensis 33 (Rzeszów 2014).

Koktvedgaard-Zeitzen 2002: M. Koktvedgaard-Zeitzen, Miniaturanker aus Haithabu und Schleswig. Berichte über die Ausgrabungen in Haithabu 34. Das archäologische Fundmaterial VII (2002), 69–82.

Pedersen 2009: A. Pedersen, Amulette und Amulettsitte der jüngeren Eisen- und Wikingerzeit in Südskandinavien. In: U. v. Freden, H. Friesinger und E. Wamers (Hrsg.)., Glaube, Kult und Herrschaft. Phänomene des Religiösen im 1. Jahrtausend n. Chr. aus Mittel- und Nordeuropa. Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte 12 (Bonn 2009), 287-302.

Radtke 2017: C. Radtke, Auf der Suche nach den Anfängen einer Fernhändlergilde in Haithabu und Schleswig. Ein historischer Längsschnitt ca. 800 – ca. 1200. In: B. V. Eriksen u.a. (Hrsg.), Interaktion ohne Grenzen I-II (II), Festschrift C. v. Carnap-Bornheim zum 60. Geburtstag (Schleswig 2017), 693-706.

Tesch u. Vince 2003: S. Tesch u. J. Vince, Vyer från medeltids Sigtuna. (Stockholm 2003)

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