Aus Abfall wird Geschichte… Ein Beitrag zur Entschlüsselung städtischer Wirtschafts- und Handwerksgeschichte am Beispiel von Anklam

Fund des Monats November 2018

Abb. 1: Anklam, Lkr. Vorpommern-Greifswald, Fpl. 261: Gussrest mit anhaftendem Buchverschluss.Details anzeigen
Abb. 1: Anklam, Lkr. Vorpommern-Greifswald, Fpl. 261: Gussrest mit anhaftendem Buchverschluss.

Abb. 1: Anklam, Lkr. Vorpommern-Greifswald, Fpl. 261: Gussrest mit anhaftendem Buchverschluss.

Abb. 1: Anklam, Lkr. Vorpommern-Greifswald, Fpl. 261: Gussrest mit anhaftendem Buchverschluss.

Dass die Archäologie weitreichende Erkenntnisse aus dem Abfall vorgeschichtlicher und historischer Epochen ziehen kann, mag dem an überlieferte Schriftquellen gewöhnten Historiker merkwürdig und dem interessierten Bürger vielleicht sogar fragwürdig vorkommen. Deshalb soll an dieser Stelle ein archäologischer Fund der Öffentlichkeit vorgestellt werden, an dem sich beispielhaft die in der Überschrift zitierte These nachvollziehen lässt.

In Städten mit einer durch die Stadtmauern begrenzten Fläche war von Beginn an die Entsorgung von Fäkalien und Unrat notwendig. Hierzu wurden zunächst aufgelassene Brunnenschächte gefüllt, später regelrechte Fäkalgruben angelegt, die aber kontinuierlich entleert werden mussten. Der nährstoffreiche Inhalt der Kloaken fand im städtischen Umfeld, den sogenannten „Kohlgärten“, also beim Gemüseanbau und bei der Düngung von Äckern, eine nutzbringende Anwendung. Zugleich mit dem Kot gelangten auch vielerlei weggeworfene und bei Nutzung der Kloaken verloren gegangene Objekte aus der Stadt hinaus.

Der Einsatz von Metalldetektoren auf solchen Flächen erschließt durch die ehrenamtliche Bodendenkmalpflege in der Landesarchäologie seit ca. 10 Jahren ein gewaltig angewachsenes Spektrum an Kleinfunden. Quasi im Umfeld jeder Stadt in Mecklenburg-Vorpommern gibt es solche auch als „Fäkalienäcker“ bezeichneten Flächen, die wegen ihrer „Altdüngung“ in jedem Jahr eine reiche archäologische „Ernte“ liefern. Dazu gehören die schon in der Rubrik „Fund des Monats“ vorgestellten Petschafte (Siegelstempel) ebenso wie besondere Münzen, Warenmarken und Plomben oder militärische Knöpfe, letztere nicht selten mit konkreten Kriegsereignissen zu verknüpfen. Im günstigsten Falle spiegeln die Funde aber auch handwerkliches Wirken in der Stadt wider.

In der Feldmark südöstlich der Stadt Anklam, Lkr. Vorpommern-Greifswald, fand der ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger Alfred Tunnat aus Menzlin im Jahr 2017 auf Fundplatz 261 ein Objekt aus Buntmetall (Abb. 1). Es handelt sich um einen trichterförmigen Gusszapfen (Inventarnummer ALM 2017/1258; Dm. 3,4 cm, Höhe 4 cm), an dessen Unterteil seitlich noch ein Produkt des Herstellungsprozesses anhaftet. Erkennbar ist auf dem zungenförmigen Metallstück (L. 3 cm) die Darstellung der Kreuzigung Christi und auf der Rückseite ein mitgegossener Haken (Abb. 2). Weitere Bruchkanten rund um das Unterteil des Gusszapfens – in der Metalltechnik auch aus „Gusskönig“ bekannt – zeigen, dass ursprünglich mehrere solcher zungenförmigen Objekte mitgegossen worden sind. Die Guss selbst erfolgte in einer zwei- oder dreischaligen Form, deren ehemaligen Einfüllkanal der Gusszapfen noch abbildet. Bei dem anhaftenden Objekt handelt es sich um die Platte eines Ösenverschlusses, die ursprünglich mit dem Dorn in der Buchdeckelkante Verwendung fand (Abb. 3). Die Durchlochungen sind noch mit Metall ausgefüllt und wurden in der Regel wohl später ausgebohrt.

Vor allem an Gebetbüchern vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in das 18. Jahrhundert waren diese Buchverschlüsse üblich. Als Messing- oder Bronzeguss konnten solche Applikationen in großer Stückzahl günstig hergestellt werden. Bildmotive waren Darstellungen von Heiligen, Putten/Engel und Glaubenssymbole beziehungsweise Allegorien. Wegen ihrer Kleinheit und der seriellen Herstellung sind diese Darstellungen zumeist künstlerisch anspruchslos, spiegeln aber durchaus Aspekte der Geistesgeschichte und in gewissem Umfang auch Buchinhalte wider. Vor allem aus dem durch die Reformation erfassten nördlichen Mitteleuropa und hier besonders dem norddeutschen Raum sind diese Buchverschlüsse in großer Zahl bekannt (Freundliche Mitteilung G. Adler, Prerow). Die Darstellung vom Kreuztod Christi auf dem Anklamer Fund ist aber zu undetailliert, um sie einer bestimmten Vorlage oder gar einem Kunststil näher zuzuordnen.

Aus dem Umfeld der Städte in Mecklenburg-Vorpommern kennen wir figürliche Verschlüsse in großer Zahl, denn natürlich gingen sie auch beim Gebrauch von Büchern in den Städten verloren. Auch in Kirchen werden sie schon oft gefunden, wo sie uns als Nachweis von geistlicher Lektüre wie Gebets und  Gesangsbüchern gelten. Doch das Anklamer Fundstück gehört nur vordergründig in diese Gruppe, denn bei ihm ist quasi der Produktionsvorgang selbst wie in einer Zeitkapsel „eingeschmolzen“ und erlaubt weiterreichende Überlegungen.

Da das Fundstück von einem Acker in der Nähe der Stadt Anklam stammt, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Anklam auch Herkunfts- und damit Herstellungsort ist. Es ist bekannt, dass die Produktion von kleinteiligen Buntmetallobjekten durch spezialisierte Handwerker in Städten erfolgte, zunehmend mit der Spezialisierung setzte auch eine massenhafte Verbreitung von Fertigprodukten ein. Bisher bekannte Zentren für die Herstellung von Buchverschlüssen der frühen Neuzeit waren Augsburg, Erfurt, Lübeck, Leipzig, Magdeburg, Nürnberg, Hamburg, Wittenberg und Frankfurt am Main, alles Orte, die gleichzeitig für ein florierendes Buchgewerbe wie Druckereien und Verlage bekannt waren (Adler 2010, 55-57). Identifizierbar sind die Hersteller des „Buchzubehörs“ in einigen Fällen, u.a. auch durch die Bezeichnung „Klausurmacher“ oder „Boekslotmaker“. Sie waren wohl mit der Gilde der Gürtler und Spangenmacher verbunden.

Die für Pommern überlieferten Druckereistandorte sind Stettin (ab 1533), Greifswald (1581), Barth (bis 1598), Stralsund (1628), Kolberg (1658) und Stargard (1671). Mit Reformation und Humanismus wurden hier Bücher für gebildete Kreise Objekte des täglichen Gebrauchs. Für Anklam wissen wir allerdings kaum etwas über Druckereien. Obwohl Kalendermacher schon im 16. Jahrhundert überliefert sind, ist fraglich, ob die Kalender auch in Anklam gedruckt wurden. Angesiedelt haben sich Buchdrucker in Anklam nachweislich schriftlicher Urkunden zwischen 1779 und 1787. Immerhin ist das Buchbinderhandwerk schon von 1696 bis 1765 belegt und mit Riemern und Sattlern ist bereits um 1638 zu rechnen (Dr. Wilfried Hornburg, Museum im Steintor, Regiebetrieb der Hansestadt Anklam, sei für detaillierte Auskünfte zur Geschichte des Handwerks herzlich gedankt). Mit letzteren haben wir vielleicht die Hersteller des vorliegenden Gussrestes erfasst (Abb. 4).

Mit dem Anklamer Fund offenbart sich exemplarisch das Problem, dass archäologische Quellen und historische Quellen sich gegenseitig nicht immer bestätigen, sondern in diesem Falle eher zu widersprechen scheinen. Für Buchdrucker fehlt es aber vielleicht einfach nur an einer besseren Quellenüberlieferung. Die vor Ort ansässigen und auch bereits archäologisch nachgewiesenen Buntmetallgiesser dagegen haben offenbar ein deutlich breiteres Spektrum an Objekten hergestellt, als dies historische Quellen vermuten lassen. Diese Objekte sind aber in der Sachkultur kaum überliefert bzw. sind wegen fehlender Handwerkermarken dem Produktionsort nicht zuweisbar.

Hinzu kommt, dass die Archäologie sich eben auch mit solchen Objekten beschäftigt, die bislang in der Erforschung der historischen Sachkultur kaum Berücksichtigung fanden bzw. denen wegen ihres seltenen Vorkommens keine Beachtung geschenkt wurde. Und hierfür steht dann auch der Gusszapfen mit dem anhaftenden Produkt, der uns zwar einen Produktionsort in einer bestimmten Zeitspanne und entsprechende Handwerksspezialisten anzeigt. Über den Umfang der Produktion und die zeitliche Dauer der Herstellung solches Buchbinderzubehörs in Anklam können wir aber zurzeit nur spekulieren und auf weitere Funde hoffen.

Dr. C. Michael Schirren

Literatur:

Adler 2010: Adler, G., Handbuch Buchverschluss und Buchbeschlag. Terminologie und Geschichte im deutschsprachigen Raum, in den Niederlanden und Italien vom frühen Mittelalter bis in die Neuzeit. Wiesbaden 2010.

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