Unterirdische Gänge. Zeugnisse eines innovativen Vertei­digungs­systems der frühen Neuzeit in der Hanse­stadt Stralsund

Fund des Monats Januar 2023

Abb. 1: Hansestadt Stralsund Fpl. 488. Der Ende Juni 2022 angeschnittene "unterirdische Gang" in der Friedrich-Naumann-Straße 33 kurz nach seiner Aufdeckung durch die Tiefbaufirma Bornhöft. Details anzeigen
Abb. 1: Hansestadt Stralsund Fpl. 488. Der Ende Juni 2022 angeschnittene "unterirdische Gang" in der Friedrich-Naumann-Straße 33 kurz nach seiner Aufdeckung durch die Tiefbaufirma Bornhöft.

Abb. 1: Hanse­stadt Stral­sund Fpl. 488. Der Ende Juni 2022 an­ge­schnit­tene "unter­irdische Gang" in der Fried­rich-Nau­mann-Straße 33 kurz nach seiner Auf­deckung durch die Tiefbau­firma Bornhöft.

Abb. 1: Hanse­stadt Stral­sund Fpl. 488. Der Ende Juni 2022 an­ge­schnit­tene "unter­irdische Gang" in der Fried­rich-Nau­mann-Straße 33 kurz nach seiner Auf­deckung durch die Tiefbau­firma Bornhöft.

In den Pommerschen Sagen wimmelt es geradezu von Zwergen oder kleinem Volk, wie die "Unnerirdschen" im Plattdeutschen auch genannt werden. Sie leben, so der Volksglaube, in Gängen unter der Erde, nicht nur in Grabhügeln wie dem Dobberworth bei Sagard, sondern auch in den Städten Greifswald und Stralsund wurden sie gesichtet. Ein ähnliches Phänomen, von dem ebenfalls gern erzählt wird, sind die Gänge zwischen Klöstern, angeblich angelegt für heimliche und gegenseitige Besuche liebestoller Mönchen und Nonnen. Richtig beweisbar sind solche Bauwerke bisher nicht. Dabei wären einige dieser Gänge, wenn sie z. B. unter Flüssen hindurch laufen sollten – wie es Fritz Reuter in seiner "Urgeschicht von Meckelnborg" über Stolpe an der Peene erzählt hat – geradezu Meisterwerke der damaligen Baukunst gewesen. Welchen historischen Kern diese Sagen im Einzelnen haben, wissen wir natürlich nicht, aber dass unterirdische Keller und zufällig entdeckte Verbindungsgänge, deren wahre Funktion in Vergessenheit geraten war, die Phantasie der Entdecker anregten, verwundert nicht. Und doch gibt es gelegentlich auch handfeste Erklärungen für solche Gänge, wie ein aktueller Fall aus Stralsund zeigt (Abb. 1).

In der nördlich der Stralsunder Altstadt liegenden Knieper Vorstadt sind seit 1930 immer wieder Entdeckungen unterirdischer Gänge dokumentiert. Damals wurde bei Anlage eines Brunnens tief in der Erde, d. h. in festem Geschiebelehm, erstmals unerwartet ein Gangsystem angeschnitten. In fast 5 m Tiefe traf der Brunnenbauer auf einen unausgesteiften Stollen mit spitzbogigem Querschnitt von etwa 1,8 m Höhe und 1,2 m Breite, offenbar mit Spaten und Hacken in den harten Geschiebemergel vorgetrieben. Neugierig und offenbar auch mutig war der Brunnenbauer, als er in den Gang einstieg und seinen Verlauf maßstäblich dokumentierte. Während die Enden des Querganges als holzausgesteifte Kammern erhalten waren, ließen sich die Verläufe des langen, NNW/SSO ausgerichteten Ganges wegen seiner Verschüttung nicht ermitteln (Abb. 2).

Im Folgenden wurden die Bewohner der Hohe Ufer Straße (seit 1946 Friedrich-Naumann-Straße) immer wieder durch Erdfälle, also sich plötzlich öffnende Löcher im Erdboden, beunruhigt. Der Neubau eines Einfamilienhauses in den frühen 1990er Jahren veranlasste den beauftragten Architekten Klaus Mittelbach, den Baugrund vorab nach dem hier vermuteten Gangsystem sondieren zu lassen. Tatsächlich wurde der bis dahin nicht genau bekannte Verlauf des 1930 entdeckten Ganges in Form eines lateinischen Kreuzes nachgewiesen. Auch der spitzbogige Querschnitt wurde bei einer erneuten Besichtigung bestätigt (Abb. 3). Verdienstvoll ist die im gleichen Rahmen erstellte Zusammenfassung von Zeitzeugenberichten und Fotos und deren Übergabe an die Denkmalbehörden, die somit wertvolle Hinweise auf ein bislang unbekanntes Bodendenkmal erhielten.

Trotzdem überraschend war dann aber am 27.6.2022 die Meldung der Baufirma Bornhöft über die Entdeckung eines weiteren unterirdischen Ganges bei Fundamentarbeiten ungefähr 80 m südlich der bisher bekannten Stellen. Mit der Kartierung aller Gänge wird nun ein ausgedehntes System von Stollen erkennbar (Abb. 4). Aus dessen unmittelbarer Nähe zu zwei Schanzen, dargestellt auf einem Stadt- und Festungsplan von 1764 (siehe Abbildung bei G. Möller u. A. Pfennig 2011, 203 Abb. 3a und e3b), ergibt sich ein nachvollziehbarer Kontext. Bislang hatte man die Gänge älter datiert – nämlich in die Zeit des Nordischen Krieges. Die rund 700 m vom eigentlichen Festungswerk der Stadt Stralsund isoliert liegenden Schanzen erweisen sich offensichtlich als Schlüssel für die Lösung des Rätsels um die unterirdischen Gänge. Konzipiert wurden sie von schwedischen Festungsingenieuren in Zusammenhang mit den eben genannten Schanzen, die als "detachierte Werke" von Marc-René Marquis de Montalembert (1714-1800), einem französischem Militär, erstmals in Stralsund errichtet wurden. Montalembert war zwei Jahre als Kommissar für die schwedische Krone tätig und sollte u. a. die Festungswerke von Stralsund optimieren. Er hat das System der "detachierten Forts" ersonnen, die als eigenständig operierende und von der Hauptfestung Stralsund losgelöste Kleinfestungen im vorgelagerten Raum als Artilleriestellungen fungierten. Man erwartete von diesen Forts, dass sie den Gegner auf einem weiten Abstand zur eigentlichen Hauptfestung halten sollten. Dieses geniale, vor allem den bis dahin traditionellen Defensivwerken gegenüber kosten- und mannschaftssparende System ist im 19. Jahrhundert insbesondere von den Preußen übernommen worden (z. B. beim sog. Rostocker Werk von 1865/66 westlich der Stralsunder Altstadt) und in verbesserten Ausführungen im Festungsbau zum Einsatz gekommen.

In den nun aufgefundenen Minengängen, die im norddeutschen Flachland erstmals belegt wurden, sollten im Vorfeld der Festung im Kriegsfall deponierte Sprengladungen unter feindlichen Belagerungs- und Artilleriestellungen gezündet und der Feind somit an einer Erstürmung der Festung gehindert werden. Auch die Nutzung der Gänge als versteckte Zuwegung zu den Forts ist zu erwägen. Montalembert sah auch den Bau solcher Minen unter Redouten (eigenständige geschlossene Schanzen) und Ravelins (ein Außenwerk zwischen zwei Bastionen zum Schutz derselben) vor. Der schwedische Festungsoffizier und spätere Direktor der gesamten Befestigungen im schwedischen Reich, Johan Bernhard Virgin (1705-1783), hielt ebenfalls den vorsorglichen Bau von Minengängen im Gelände vor den Festungen für notwendig. Seine wissenschaftlichen Ausführungen zum verbesserten Festungsbau hatten nach seinem Tode großen Einfluss auf die Errichtung von Verteidigungsanlagen.

Wegen der genannten fortifikatorischen Maßnahmen der Schwedenzeit ist es also nicht ausgeschlossen, dass weitere derartige Minengänge in den Vorstädten Stralsunds existieren, von denen wir nur noch nichts wissen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sich auch in Zukunft weitere "geheimnisvolle" Gänge auftun würden.

Gunnar Möller, Leiter Abt. Denkmalpflege, Untere Denkmalschutzbehörde, Hansestadt Stralsund

Dr. C.-Michael Schirren, LAKD M-V/Landesarchäologie

Literatur

  • Gunnar Möller und Angela Pfennig: Die Stralsunder Festung. In: Guido von Büren (Red.) Festungsbaukunst in Europas Mitte. Festschrift zum 30-jährigen Bestehender Deutschen Gesellschaft für Festungsforschung Festungsforschung Band 3. Regensburg 2011, 199-222.
  • Josef Ritter von Xylander (Übers.): Johann Bernhard Virgin's Vertheidigung der Festungen im Gleichgewichte mit dem Angriffe derselben. München 1820.
  • Alexander von Zastrow: Geschichte der beständigen Befestigung oder Handbuch der vorzüglichsten Systeme und Manieren der Befestigungskunst. Leipzig 1854.

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