Fund mit Folgen: Wie das Tollensetal, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte, in den Fokus der Archäologie rückte

Fund des Monats November 2021

Abb. 1: Waren, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte. Die Dienststelle des damaligen Landesamtes für Bodendenkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern (links), aufgenommen vom Turm der Marienkirche.Details anzeigen
Abb. 1: Waren, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte. Die Dienststelle des damaligen Landesamtes für Bodendenkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern (links), aufgenommen vom Turm der Marienkirche.

Abb. 1: Waren, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte. Die Dienststelle des damaligen Landesamtes für Bodendenkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern (links), aufgenommen vom Turm der Marienkirche.

Abb. 1: Waren, Lkr. Mecklenburgische Seenplatte. Die Dienststelle des damaligen Landesamtes für Bodendenkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern (links), aufgenommen vom Turm der Marienkirche.

Vor ziemlich genau 25 Jahren, im Mai 1996, betrat der ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger Ronald Borgwardt ein unscheinbares Gebäude in Waren an der Müritz. Anlass seines Besuchs in der Außenstelle des damaligen Landesamtes für Bodendenkmalpflege (Abb. 1) waren einige menschliche Knochen, die er bei Begehungen im Flusstal der Tollense entdeckt hatte. Das wäre an sich nichts Besonderes gewesen, war das Tal doch seit den 1980er Jahren als Fundort menschlicher Knochen bekannt. Im Unterschied zu allen bisher gefundenen Knochen steckte im Gelenkende eines der neuen Fundstücke jedoch eine Pfeilspitze aus Feuerstein (Abb. 2). Sie war zweifellos durch einen Schuss dorthin gelangt, der das Individuum mit Wucht getroffen hatte. Anhand von Form und Material ließ sich das Projektil (Abb. 3) grob dem Zeitraum zwischen der späten Jungsteinzeit und dem Beginn der jüngeren Bronzezeit zuordnen.

Es war keine besondere Herausforderung, aus diesen Informationen verschiedene Szenarien zum Tathergang zu entwickeln. Vom Jagdunfall bis zum "Schlachtfeld" schien alles denkbar, zumal aus dem Tatzeitraum keine vergleichbaren Funde bekannt waren, die den Interpretationsspielraum einengten. An der Diskussion der Deutungshypothesen nahm auch die Öffentlichkeit regen Anteil, die durch Fernsehberichte von dem aufsehenerregenden Fund erfuhr. Nach einer Sendung traf ein Schreiben in der Außenstelle Waren ein, dessen Verfasser den Fall für gelöst erklärte: Die Knochen seien die Überreste eines Kampfes, bei dem die Sieger die Männer töteten, die Frauen dagegen als Trophäen in ihre Höhlen verschleppten.

Bei aller Heiterkeit über solche Hauruck-Interpretationen war vermutlich allen Beteiligten bewußt, welches Potenzial in dem Knochen mit der Pfeilspitze tatsächlich steckte – erst recht, wenn man die Fundstelle in die Betrachtung einbezog. Im Mai 1996 war wenig mehr bekannt als ihre Lage an einer Flusschleife der Tollense. Im Juli 1996 begab sich deshalb das Personal der Außenstelle Waren ins Gelände, um durch einige Probegrabungen mehr über die Fundstelle herauszufinden. Mit tatkräftiger Unterstützung ehrenamtlicher Helfer wurden nach und nach etwa 60 m² Fläche geöffnet (Abb. 4 und 5).

Das Ergebnis ist bekannt: Etwa 1,20 m unter der heutigen Oberfläche erstreckt sich eine Fundschicht mit zahlreichen Menschenknochen in unregelmäßiger, ungeordneter Verteilung (Abb. 6). Dazwischen liegen, ebenso ungeordnet, einzelne Haufen von Pferdeknochen. Weitere Verletzungsspuren an Menschenknochen und der Fund von zwei Holzkeulen, wenn auch aus dem Uferbereich und damit nicht aus ungestörtem Fundzusammenhang, gaben der Hypothese eines Gewaltereignisses weitere Nahrung.

Nach der Sicherung der Fundstellen mit Geotextil (Abb. 7) begann 2009 ein größeres Forschungsprojekt im Tollensetal, das bis 2016 andauerte. Die Ergebnisse sind kontinuierlich vorgelegt worden ("Veröffentlichungen aus der Projektgruppe (in chronologischer Folge)"), weitere Veröffentlichungen sind im Druck oder in Vorbereitung. Durch die Forschungen ist die Bedeutung der Fundstellen mehr als deutlich geworden: Es steht inzwischen außer Frage, dass sie der archäologisch fassbare Niederschlag eines großen Gewaltereignisses sind, in dem um 1250 v. Chr. mindestens 140-150 Menschen ihr Leben verloren. Soweit derzeit bekannt, ist es der weltweit älteste archäologisch nachweisbare Gewaltkonflikt dieser Größenordnung.

Während das von 2009 bis 2016 geborgene Material nach und nach weiter ausgewertet wird, liegt die Priorität im Tollensetal gegenwärtig ganz auf der Sicherung der Fundstellen. In enger Zusammenarbeit mit dem LAKD kartieren Mitglieder des Landesverbandes für Unterwasserarchäologie Mecklenburg-Vorpommern e. V. deshalb systematisch die erosionsgefährdeten Bereiche im Flusslauf. Der so geschaffene Überblick soll als Grundlage eines langfristigen Schutzkonzeptes dienen, das dem herausragenden Wert der Fundstellen Rechnung trägt.

Durch die Forschungen der vergangenen 25 Jahre ist offensichtlich geworden, wie sensibel die archäologischen Fundstellen im Tollensetal gegen jede Art von Störung sind. Diese Erkenntnis bezieht sich nicht nur auf die durch natürliche Faktoren verursachten Störungen, sondern auch auf die wissenschaftliche Erforschung selbst. Jede Grabung bedeutet unweigerlich einen Verlust von Originalsubstanz. Mit der im Boden konservierten Fundsituation geht auch die darin enthaltene Information verloren, soweit sie nicht während der Grabung gesichert und in archivfähige Form gebracht wird. Da selbst alle beim heutigen Stand der Grabungstechnik zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Dokumentation (Abb. 8) nicht ausreichen, um das volle Informationspotenzial der originalen Fundsituation auszuschöpfen, ist die logische Konsequenz, auf jede vermeidbare Grabung zu verzichten.

Ebenso sensibel ist das Fundmaterial aus dem Tollensetal. Nach rund 3.300 Jahren in feuchtem oder nassem Milieu reagieren die meisten Gegenstände äußerst empfindlich, wenn sie an die Oberfläche und damit in eine helle, sauerstoffhaltige, trockene Umgebung geholt werden. Oft ist ein extrem hoher Aufwand erforderlich, um sie vor Schäden oder gar völliger Zerstörung zu schützen.

Ein solcher hochsensibler Gegenstand ist eine bronzene Gürteldose, die 2016 geborgen und zunächst in Wasser gelagert wurde, um sie vor dem unkontrollierten Kontakt mit Sauerstoff aus der Luft zu schützen (Abb. 9). Als besondere Herausforderung kam in diesem Fall hinzu, dass die Schauseite der Gürteldose mit Einlagen aus einer dunklen, organischen Masse verziert ist. Im Gegensatz zur Bronze, für deren restauratorische Behandlung auf umfangreiche Erfahrungen zurückgegriffen werden kann, mußten die Grundlagen für den restauratorischen Umgang mit der organischen Masse erst ermittelt werden. Das geschah im Rahmen einer Masterarbeit im Studiengang Konservierung und Restaurierung, Fachrichtung Archäologisch-Historisches Kulturgut, an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Elise Malchow führte dazu umfangreiche Untersuchungen zum Material selbst, zu dessen Eigenschaften und zu den möglichen Behandlungsoptionen durch (Malchow 2017/18).

Es konnte nachgewiesen werden, dass es sich bei der dunklen organischen Masse um Birkenpech mit einem unerwartet hohen Anteil an Bestandteilen aus tierischem Fett und pflanzlichem Öl handelt. In Versuchsreihen an rezentem Birkenpech wurde ermittelt, dass eine kontrollierte, gleichmäßig über einen längeren Zeitraum verlaufende Trocknung das schonendste Verfahren darstellt, um eine langfristige Erhaltung des Materials sicherzustellen. Zur Festigung erwies sich ein Zelluloseether als geeignet, während sich die üblicherweise zur Oberflächenbehandlung von Bronze verwendeten Kunstharze als schädlich für das Pech erwiesen. Die Oberflächenbehandlung der Bronze musste sich deshalb auf eine Entfernung schädlicher Korrosionsprodukte beschränken (Abb. 10). Nach der kontrollierten Trocknung muss die Gürteldose zum Schutz vor Korrosion dauerhaft unter Sauerstoffabschluss gelagert werden; außerdem ist sie UV-Strahlung zu schützen, die schädlich für das Pech wäre (Malchow 2019). Hochsensible Funde wie die Gürteldose unterstreichen die Notwendigkeit, auf jede vermeidbare Bergung von Funden aus den Fundschichten des Tollensetals zu verzichten.

Aus dem Erkenntnisgewinn der vergangenen 25 Jahre ergeben sich aber nicht nur neue, weiterreichende Anforderungen an den denkmalpflegerischen Umgang mit den Fundstellen, sondern auch besondere Sorgfaltspflichten für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ereignissen, die sich vor annähernd 3300 Jahren im Tollensetal abspielten. Damit ist nicht gemeint, dass es bei weniger bedeutenden Fundstellen weniger auf die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit ankäme. Die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis gelten selbstverständlich immer und überall. Im Fall der Fundstellen im Tollensetal und anderer vergleichbar bedeutender Fundstellen ist jedoch zu beobachten, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen auf ein ungleich größeres Interesse in der medialen Öffentlichkeit stoßen.

Es kommt hinzu, dass sich die mediale Öffentlichkeit des Jahres 2021 in wesentlichen Punkten von der medialen Öffentlichkeit des Jahres 1996 unterscheidet. Nicht nur Reichweite und Geschwindigkeit, sondern auch die schiere Menge der verfügbaren Information haben in erstaunlichem Maße zugenommen. Um in dieser Informationsflut wahrgenommen zu werden, kommt es offensichtlich darauf an, Inhalte zuzuspitzen, Schlagzeilen zu schärfen, den "Aufreger" zu finden.

Die Wissenschaft tut gut daran, sich nicht an diesem Wettlauf zu beteiligen. Er kann zwar im besten Fall helfen, Aufmerksamkeit und vielleicht auch Mittel zu generieren – was in einem chronisch unterfinanzierten Bereich wie der archäologischen Forschung nicht unwichtig ist –, führt aber unweigerlich zu einem gesteigerten Erwartungsdruck, der wiederum Rückwirkungen auf den wissenschaftlichen Interpretationsspielraum hat. Man könnte diesen Effekt auch als den Fluch des sich verselbständigenden, verfestigenden Narrativs beschreiben.

Was bedeutet das für den wissenschaftlich verantwortungsvollen Umgang mit den Fundstellen im Tollensetal? Zunächst einmal kommt es darauf an, den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess transparent zu machen. In den vergangenen 25 Jahren sind verschiedene Hypothesen über die Fundstellen im Tollensetal aufgestellt worden. Mit zunehmendem Wissen, das durch Feldforschungen, (osteo-)archäologische und naturwissenschaftliche Untersuchungen entstand, konnten einige dieser Hypothesen verworfen werden; andere erwiesen sich als plausibel genug, um weiter untersucht zu werden. Es gehört zu diesem Prozess, dass sich die Grenzen zwischen gesicherter Erkenntnis und Hypothese immer wieder verschieben.

Der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis ist also immer nur eine Momentaufnahme. Verantwortungsvoller wissenschaftlicher Umgang mit den Fundstellen im Tollensetal bedeutet deshalb, sich andere Hypothesen offenzuhalten, auch wenn sie nicht dem verfestigten Narrativ entsprechen.

Wer heute in Waren an der Müritz nach dem unscheinbaren Gebäude sucht, in dem damals die Außenstelle des Landesamtes für Bodendenkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern untergebracht war, wird übrigens nicht mehr fündig. Das Haus in der Langen Straße ist längst einem Neubau gewichen. Ähnlich erging es dem Gedankengebäude, in dem die Bronzezeitforschung vor 25 Jahren ihr Zuhause hatte. Seine grundlegende Renovierung und Erweiterung, die durch die Entdeckungen im Tollensetal nötig wurde, ist allerdings noch lange nicht abgeschlossen.

Dr. Detlef Jantzen

Literatur:

Literatur zum Tollensetal-Projekt

Malchow 2017/18: Elise Malchow, Nass gelagerte Bronze mit Pechdekor. Konservierung einer geschlossenen bronzezeitlichen Gürteldose aus dem Tollensetal. HTW Berlin, Masterstudium Konservierung und Restaurierung, Exposé Masterthesis WiSe 2017/18

Malchow 2019: Elise Malchow, Nass gelagertes Pech. Konservierungskonzept für eine bronzezeitliche Gürteldose aus dem Tollensetal. Masterarbeit Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, Berlin 2019.

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