Ein kleiner Odin in Menzlin?

Fund des Monats November 2023

Abb. 1: Menzlin, Lkr. Vorpommern-Greifswald. Bronzene Nadel mit doppelseitiger Gesichtsdarstellung, Ansicht der Vorder- und der Rückseite (Inv. Nr. ALM 2022/822).Details anzeigen
Abb. 1: Menzlin, Lkr. Vorpommern-Greifswald. Bronzene Nadel mit doppelseitiger Gesichtsdarstellung, Ansicht der Vorder- und der Rückseite (Inv. Nr. ALM 2022/822).

Abb. 1: Menzlin, Lkr. Vorpommern-Greifswald. Bronzene Nadel mit doppelseitiger Gesichtsdarstellung, Ansicht der Vorder- und der Rückseite (Inv. Nr. ALM 2022/822).

Abb. 1: Menzlin, Lkr. Vorpommern-Greifswald. Bronzene Nadel mit doppelseitiger Gesichtsdarstellung, Ansicht der Vorder- und der Rückseite (Inv. Nr. ALM 2022/822).

Vorgeschichtliche Menschendarstellungen werden nur selten gefunden, sprechen uns heute aber wie kaum eine andere Fundgattung direkt an – wir blicken der Vorgeschichte sozusagen „ins Gesicht“. Noch spannender wird die Sache, wenn es sich möglicherweise um eine Götterdarstellung handelt. Aber fangen wir von vorne an.

Auf dem Gelände des frühmittelalterlichen Seehandelsplatzes in Menzlin, Lkr. Vorpommern-Greifswald, wurden Ende 2022 einige bis dato als Trockenrasen entwickelte Flächen im Ostteils der Siedlung umgebrochen. Obwohl von Seiten der Landesarchäologie eigentlich ein langfristiger Schutz der Fläche durch Extensivierung erwartet worden war, wurden durch den Pächter nun plötzlich nicht abgesprochene Pflugarbeiten durchgeführt. Im Ostteil der Siedlung mussten in der Folge ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger Begehungen durchführen, um der illegalen Absammlung durch Unbefugte zuvorzukommen.

Abb. 2: Menzlin, Lkr. Vorpommern-Greifswald. Bronzene Nadel mit doppelseitiger Gesichtsdarstellung, Gesamtansicht aus vier Perspektiven (L. 7,3 cm).Details anzeigen
Abb. 2: Menzlin, Lkr. Vorpommern-Greifswald. Bronzene Nadel mit doppelseitiger Gesichtsdarstellung, Gesamtansicht aus vier Perspektiven (L. 7,3 cm).

Abb. 2: Menzlin, Lkr. Vorpommern-Greifswald. Bronzene Nadel mit doppelseitiger Gesichtsdarstellung, Gesamtansicht aus vier Perspektiven (L. 7,3 cm).

Abb. 2: Menzlin, Lkr. Vorpommern-Greifswald. Bronzene Nadel mit doppelseitiger Gesichtsdarstellung, Gesamtansicht aus vier Perspektiven (L. 7,3 cm).

Einen der interessantesten Funde entdeckte Ingo Westphal: eine ungewöhnliche Nadel mit einem Männerkopf, auf dem ein Vogel zu sitzen scheint (Abb. 1). Die Nadel ist 7,3 cm lang und recht gut erhalten (Abb. 2); nur eine Bruchstelle zu Füßen des Vogels bzw. auf den Haaren des Kopfes lässt sich erkennen.

Der „Kopf“ besteht aus zwei januskopfartig angeordneten, bärtigen Gesichtern mit großen Augen und kräftigem Haupthaar; ein Hinterkopf ist nicht vorhanden. Auf dem Haar sitzt ein rundplastisch gegossener, rundlicher Vogel mit spitz zulaufendem Schwanz. Die Position des Vogels am Kopf und die Bruchstelle lassen vermuten, dass hier ursprünglich zwei Vögel saßen, die spiegelsymmetrisch angeordnet waren.

Abb. 3: Kopf mit nach außen blickenden Vogeldarstellungen auf einem Gerätegriff von Ihre, Gotland, aus dem 6.–8. Jahrhundert. Frontal- und Seitenansicht (nach Nerman 1969, Taf. 123,1099).Details anzeigen
Abb. 3: Kopf mit nach außen blickenden Vogeldarstellungen auf einem Gerätegriff von Ihre, Gotland, aus dem 6.–8. Jahrhundert. Frontal- und Seitenansicht (nach Nerman 1969, Taf. 123,1099).

Abb. 3: Kopf mit nach außen blickenden Vogeldarstellungen auf einem Gerätegriff von Ihre, Gotland, aus dem 6.–8. Jahrhundert. Frontal- und Seitenansicht (nach Nerman 1969, Taf. 123,1099).

Abb. 3: Kopf mit nach außen blickenden Vogeldarstellungen auf einem Gerätegriff von Ihre, Gotland, aus dem 6.–8. Jahrhundert. Frontal- und Seitenansicht (nach Nerman 1969, Taf. 123,1099).

Ein Mann mit zwei Vögeln – wer denkt da nicht sofort an den obersten nordischen Gott Odin und seine Raben Hugin und Munin, die jeden Tag die Welt abfliegen und Odin von allem berichten, was sie erfahren? Tatsächlich haben im Norden Bildmotive, die einen Mann mit Vögeln zeigen, in verschiedensten Varianten eine lange Tradition. Vendelzeitlich sind etwa die berühmten Darstellungen von Kriegern, die auf dem Kopf Helme mit Hörnern tragen, deren Spitzen als Vogelköpfe ausgebildet sind. Wir kennen sie von den Helmblechen aus Vendel, Valsgärde, Sutton Hoo und anderen Fundorten. Aufgrund von stilistischen Vergleichen dürfte die Nadel aus Menzlin wohl ins 7. bis (wahrscheinlicher) 8. Jahrhundert gehören: Die mandel­förmigen Augen, die dreieckige Kopfform mit dem deutlichen Scheitel und die Form des Bartes finden sich auf anderen Darstellungen jener Zeit, vor allem aus Dänemark und Schweden. Für das Jahrhundert spricht auch der rundplastische Guss, der in der Wikingerzeit zu voller Blüte gelangt und technisch perfektioniert wird (Abb. 3). Eine ähnliche Zeitstellung haben einige Gerätegriffe aus Öland, die sehr ähnlich gearbeitet sind und ebenfalls einen Männerkopf mit Hörnern/Vögeln tragen (Abb. 4).

Abb. 4: Kopf mit einander zugewandten Vogelköpfen auf einem Gerätegriff (?) aus Gåtebo, Öland. Nach Callmer 1983, 80 Abb. 6.Details anzeigen
Abb. 4: Kopf mit einander zugewandten Vogelköpfen auf einem Gerätegriff (?) aus Gåtebo, Öland. Nach Callmer 1983, 80 Abb. 6.

Abb. 4: Kopf mit einander zugewandten Vogelköpfen auf einem Gerätegriff (?) aus Gåtebo, Öland. Nach Callmer 1983, 80 Abb. 6.

Abb. 4: Kopf mit einander zugewandten Vogelköpfen auf einem Gerätegriff (?) aus Gåtebo, Öland. Nach Callmer 1983, 80 Abb. 6.

Nun ist aber nicht gesichert, dass es sich bei den genannten Vergleichs­stücken stets um Odinsdarstellungen handelt; sie könnten auch (mensch­liche) Krieger zeigen oder andere Figuren der Mythologie – oder, in Anbetracht der doch recht profanen Funktion der Geräte – etwas bzw. jemand ganz anderes. Das gilt auch für das Stück aus Menzlin. Zwar sind wir mit dem 8. Jahrhundert zeitlich schon recht nahe an der frü­hesten schriftlichen Überlieferung, die von Odin, Hugin und Munin berichtet, was für eine gewisse Wahrscheinlichkeit dieser Deutung spricht. Vielleicht handelt es sich hier auch nur um eine künstlerische Variante des alten Themas „Mann/Kopf mit Vogel/Vögeln“ – zumal auch andere Gestalten der Heldensage und Mythologie mit Vögeln zu tun haben und entsprechend dargestellt werden, z. B. der mithilfe von Flügeln aus der Gefangenschaft fliehende Zauberschmied Völund (im deutschen Sprachraum: Wieland). Die gotländischen Bildsteine vom Typ B (ca. 500–700 n. Chr.) zeigen ebenfalls antithetische (Wasser-)Vögel. Hier dürfte es sich um vogelgestaltige Begleiter der Seelen ins Jenseits handeln.

Dazu kommt: Es gibt im slawischen Bereich durchaus auch Vergleichbares. Köpfe mit zwei oder mehr Gesichtern kennt man hier inzwischen in größerer Zahl, wenn auch eher aus jungslawischer Zeit. In der Regel werden sie mit dem Gott Svantevit identifiziert. Wäre diese Deutung nicht auch für das Stück aus Menzlin zu bedenken, vor allem angesichts der räumlichen Nähe zu Rügen, wo in der Tempelburg Arkona der Gott Svantevit verehrt worden sein soll?

Letztlich lässt sich die Frage, wer auf der Nadel von Menzlin dargestellt ist, nicht endgültig beantworten. Eher wird hier die Uneindeutigkeit bzw. Vieldeutigkeit der bildlichen Darstellungen jener Zeit deutlich, die eher als Netzwerk gegenseitiger Anspielungen beschrieben werden kann denn als strikt voneinander getrennte ikonographische Kategorien.

Dr. Michaela Helmbrecht

Literatur

  • Brather 2001: Sebastian Brather, Mehrköpfige Gottheit, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Band 19, 2001, 500–505.
  • Callmer 1983: Johan Callmer, Vendel and Viking Period Finds from Gårdby and Late Iron Age
  • Settlement Development on Öland. Meddelanden från Lunds Universitets Historiska Museum 5, 1983, 72–83.
  • Helmbrecht 2011: Michaela Helmbrecht, Wirkmächtige Kommunikationsmedien : Menschenbilder der Vendel- und Wikingerzeit und ihre Kontexte. Acta Arch. Lundensia, Ser. Prima in 4° 30 (Lund 2011).
  • Lamm 1987: Jan-Peder Lamm, On the Cult of Multiple-Headed Gods in England and in the Baltic Area. Przegląd Archeologiczny 34, 1987, 219–231.
  • Lanz 2021: Nicolai Gabriel Lanz, The Enigma of the Horned Figure. Horned figures in Pre-Christian Germanic Societies of the Younger Iron Age (MA ritgerð Háskóli Íslands Reykjavík 2021).
  • Nerman 1969: Birger Nerman, Die Vendelzeit Gotlands. I. Text. II. Tafeln (Stockholm 1969-1975).
  • Oehrl 2010: Sigmund Oehrl, Ornithomorphe Psychopompoi im Bildprogramm der gotländischen Bildsteine. Ikonografische Auswertung des Neufundes vom Hafenplatz in Fröjel, Frühmittelalterliche Studien 44, 2010, 1–37.
  • Vierck 2022: Hayo Vierck, Wieland der Schmied – und Schamane? Ein Schmiedeheld und Halbgott im Spiegel skandinavischer und angelsächsischer Bilddenkmäler. Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 127 (Berlin, Boston 2022).

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