Das Ende des Paradieses… und eine Steinkeule aus Bussin, Lkr. Vorpommern-Rügen. Gedanken zu einem ungewöhnlichen Fund aus der Zeit mittelsteinzeitlicher Wildbeuter

Fund des Monats Oktober 2023

Abb.1: Bussin, Lkr. Vorpommern-Rügen. Das Bruchstück der Steinkeule unmittelbar nach der Auffindung.Details anzeigen
Abb.1: Bussin, Lkr. Vorpommern-Rügen. Das Bruchstück der Steinkeule unmittelbar nach der Auffindung.

Bussin, Lkr. Vorpommern-Rügen. Das Bruchstück der Steinkeule unmittelbar nach der Auffindung.

Bussin, Lkr. Vorpommern-Rügen. Das Bruchstück der Steinkeule unmittelbar nach der Auffindung.

Bei einer Jagd in der Gemarkung Bussin machte der Stralsunder Klaus Warnkross einen zunächst eher unspektakulären Fund, offensichtlich das Bruchstück eines ehemals durchlochten und kugeligen Feldsteins. Vermutlich unter der Einwirkung moderner landwirtschaftlicher Geräte war er zerbrochen. Auf seiner Oberfläche sind Rostspuren früherer „Kontakte“ mit eisernen Pflugscharen erkennbar (Abb. 1). Auf Umwegen erhielt Verfasser dann über Hero Kromminga zunächst ein Bild dieses Fundstücks. Kurz darauf gelangte der Fund wegen seiner inzwischen erkannten Bedeutung als Bodendenkmal an die Landesarchäologie zur weiteren wissenschaftlichen Bearbeitung. Im Archäologischen Archiv in Schwerin ist er nun, nach über 7.000 Jahren in der Erde, unter der nüchternen Inventarnummer ALM 2018/946 für die Nachwelt in einem Karton archiviert.

Die kugelig-abgeflachte Grundform (Maße 8 x 7 x 3,3 cm) scheint eine Art Kiesel zu sein. Mineralogisch entspricht die feine homogene Körnung mit der graugelben Färbung einem quarzitischen Sandstein. In den Geschieben der letzten Eiszeit (sogenannte Weichseleiszeit, ca. 115.000 bis 20.000 v. Chr.) lassen sich solche Steine, deren Oberflächen vom Wasser der Gletscherflüsse geglättet und gerundet sind, oft entdecken. Doch besonders wird der Stein durch eine sanduhrförmige Durchlochung von 3,2 cm Durchmesser etwa in seinem ehemaligen Zentrum. Sie ist unzweifelhaft von Menschenhand hergestellt. Mit einem harten spitzen Stein wurden zunächst zwei sich gegenüberliegende Schälchen in die Oberfläche gepickt. Hierzu musste ein deutlich härteres Gestein verwendet werden als der Quarzit. Sehr wahrscheinlich führte man deshalb diese Arbeiten mit einer massiven, zugeschlagenen Flintspitze aus; Flint ist ob seiner homogen harten, glasartigen Struktur und seiner diamantartigen Härte dazu besonders geeignet. Wenn man diese Technik wechselseitig ausführt, ist das Resultat die vorliegende Sanduhrform. Schließlich stoßen die beiden trichterförmigen Vertiefungen zusammen und eine Durchlochung entsteht. Soweit, so einfach … aber warum wurde der Stein nicht einfach senkrecht durchbohrt? Die Bohrung von Stein – ob als Voll- oder Hohlbohrung ausgeführt – ist doch eine Technik, die wir aus der Vorgeschichte des Menschen gut kennen. Wir sehen sie an Steinäxten der Jungsteinzeit, wie sie in vielen archäologischen Museen ausgestellt sind, geradezu normiert auftreten. Und natürlich war die Bohrtechnik auch in späteren Zeiten immer ein Teil des „Werkzeugkastens“ des Menschen.

Tatsächlich ist die primitiv – oder sehr einfach – erscheinende Form der Durchlochung gleichzeitig auch ein Schlüssel zur kulturellen Einordnung. Der Mensch, der diese Form der Durchlochung herstellte, kannte entweder die Durchbohrung nicht oder sie gehörte einfach nicht zu den von ihm angewandten traditionellen Techniken. Oder erforderte die Herstellung der durchlochten Quarzitkiesel eine andere technische Lösung als die Bohrung? Wir können diese Frage nach mehreren Jahrtausenden nicht wirklich beantworten. Was wir aber wissen, ist, dass solche Durchlochungen bezeichnend sind für die im nördlichen Mitteleuropa lebenden Jäger-Sammler-Kulturen oder Wildbeuter der sogenannten mittleren Steinzeit (zwischen 7.500 und ca. 4.200 v. Chr.). Doch auch aus dem Mesolithikum – so die fachwissenschaftliche Bezeichnung für die Mittelsteinzeit – Nordostdeutschlands mit Mecklenburg-Vorpommern und dem nördlichen Brandenburg kennen wir insgesamt nur knapp 20 solcher auch als Geröllkeulen benannter Objekte.

Was genau haben wir hier eigentlich vor uns? Waren diese durchlochten Steine Waffen, ein Jagdgerät, ein Werkzeug oder gar ein kultisch genutzter Gegenstand? Nutzungsspuren, wie z.B. aufgerauhte Schlagnarbenfelder, die beim Arbeiten auf harten Unterlagen entstehen, sind auf dem erhaltenen Bruchstück aus Bussin nicht erkennbar. Doch wurden solche Spuren auf anderen Objekten dieser Art durchaus festgestellt. Ebenso gibt es vollständig unversehrte Stücke, die ihre ursprünglich glatte Form vollständig erhalten haben, was die nachvollziehbare Interpretation als Gerät oder Werkzeug schwierig macht. Nur die schmalste Stelle des Pickkanals (1,3 cm) der Bussiner Steinkeule weist übrigens Glättungsspuren auf, ein Hinweis auf eine Schäftungsart, die nicht ganz fest war, sondern Abrieb erzeugte (sogenannte Schäftungspolitur). Die archäologische Forschung hat bereits im 19. Jahrhundert durchlochte Steinobjekte aus völkerkundlichen Sammlungen aller Welt zum Vergleich und als Erklärung für die hierzulande entdeckten Artefakte herangezogen. Steinerne Keulen dienten nachweislich unterschiedlichsten Zwecken, von der Beschwerung bei ackerbaulich verwendeten Grabestöcken über Schlag- und Wurfgeräte bei der Jagd bis zu Kriegsgeräten.

Geschäftet sind solche Keulen aus Stein effektive und nicht selten tödliche Waffen im Kampf. Auf den frühesten Schlachtendarstellungen Ägyptens aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. sieht man Krieger mit geschäfteten Steinkeulen vorwärtsstürmen. Als todbringende Waffe sind Keulen im Prinzip auf der ganzen Welt verbreitet gewesen. Einfache Holzkeulen, z. T. mit ausgeprägten Köpfen, sind als Zeugnisse eines bewaffneten Konfliktes der Bronzezeit aus den Flussmoortorfen des Tollensetals bei Weltzin im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte ausgegraben worden. Auch das späte Mittelalter Europas kennt den Streitkolben, ja selbst bei den blutigen Kämpfen des ersten Weltkrieges in den italienischen Alpen wurden zweckentfremdete Eisenköpfe von Handgranaten geschäftet als Keulen eingesetzt.

Doch kehren wir zurück zur Frage, welche Bedeutung Steinkeulen für kleine Kulturgruppen wie die hiesigen Jäger-Sammler-Gemeinschaften der Nacheiszeit gehabt haben könnten. Lange sah man die Menschen in derartigen Kulturen als urgesellschaftlich konfliktarm und friedliebend an. Organisierte Aggression in der Urgesellschaft nach Lesart des historischen Materialismus sollte erst mit der Entstehung von Eigentum aufkommen. Man stellte sich die Jäger und Sammler in friedlicher Eintracht mit ihrem sozialen und ökologischen Umfeld vor. Bewaffnete Auseinandersetzungen hätten in diesem paradiesisch erscheinenden Zustand nicht oder wenn, dann nur in ritualisierter Form stattgefunden. Doch hat sich mit dem Nachweis von Kampfspuren an Skeletten wie z. B. eingeschossenen Pfeilspitzen oder Läsionen an Schädeln durch stumpfe Gewalt das Bild vom friedlichen Wildbeuter gewandelt. Auch diese Gesellschaften konnten nach dem heutigen Forschungsstand – unter entsprechenden Umständen – zu gewalttätigen Auseinandersetzungen als Mittel der Konfliktlösung greifen.

Länger bekannt – weil auch relativ häufiger beobachtet – sind Funde von menschlichen Schädeln mit Verletzungen in frühbäuerlichen Kulturen. In der sogenannten Linearbandkeramik (ca. 6.000-5.000 v. Chr.), der ersten, aus dem Balkanraum eingewanderten bäuerlichen Kultur des westlichen Europa, deuten die Traumata an Schädeln auf Steinbeile und Keulen als tödliche Schlagwerkzeuge hin. Technologisch bemerkenswert ist: Wir kennen aus dieser Kultur in ihrer Frühphase nur undurchlochte Beile, während Keulen aus Stein, die zur Aufnahme eines Schäftungsholzes durchlocht wurden, erst in einer jüngeren Phase auftreten. Es scheint also, als ob die zumeist quergeschäfteten Steinbeile eine Doppelfunktion als Werkzeug und Waffe erfüllten. Dagegen dürften Keulen von vornherein als Schlagwaffen gedacht gewesen und als solche genutzt worden sein. Aber gibt es so etwas wie eine Verbindung zwischen den Keulen der Wildbeutergesellschaften und den Keulen der frühen Ackerbauern und Viehzüchterkulturen? Zur Beantwortung dieser Frage helfen methodisch die archäologischen Verbreitungskarten weiter, die die Präsenz der verschiedenen Kulturgruppen und bekannter Keulenformen über große Räume nachvollziehbar machen. Das Kartenbild zeigt eine bemerkenswert weite Streuung der sanduhrförmig durchlochten Keulen in den Wildbeuterkulturen nördlich der deutschen Mittelgebirge. Südlich davon gibt es bis in den Bereich der zeitgleichen, frühen bäuerlichen Kulturen einige Überschneidungen. Jüngere archäologische Forschungen gehen deshalb sogar davon aus, dass die technologische Innovation, steinerne Keulenköpfe als effektive Waffen zu nutzen, in frühen bäuerlichen Kulturgruppen durch interkulturelle Kontakte „verursacht“ wurde. Vielleicht waren es aber auch Konflikte zwischen Bauern und Wildbeutern: Erwiesenermaßen hat es Kontakte zwischen den verschiedenen Kulturen gegeben, deren Nahrungserwerb ja auf völlig unterschiedlichen Strategien beruhte. Über die Art dieser Kontakte kann man spekulieren; neben der kulturellen Anpassung, z. B. in der Herstellung von Steingeräten, kam es auch zu einer genetischen Vermischung, deren Hintergründe wir aber nach mehr als 7.000 Jahren nicht im Detail nachvollziehen können. Sie kann friedlich verlaufen sein, kann aber auch z. B. den Raub von gebärfähigen Mädchen und Frauen oder den Raub von Kindern eingeschlossen haben. Das alte biblische Gleichnis von Jakob und Esau, der eine Bauer und der andere Viehzüchter, deren Streit im tödlichen Bruderzwist endete, steht quasi für eine weitere Form des interkulturellen Kontaktes: den Kampf um Ressourcen und Vorrechte. Derartige Konflikte sind sowohl unter Wildbeutern selbst, als auch unter Bauern und Viehzüchtern, letztlich aber auch zwischen Wildbeutern und Bauern/Viehzüchtern denkbar und im rezenten ethnologischen Vergleich bekannt.

Waren Keulen also in jedem Fall Waffen und keine Werkzeuge? Tatsächlich können wir über die Funktion dieser Geräte nur Vermutungen auf Grundlage von Indizien anstellen. Auch die Idee, die gestielten Keulen könnten als Macht- und Statussymbole fungiert haben, entspringt eigentlich der Annahme, in diesen Objekten ursprüngliche Waffen zu sehen. Erst durch den erfolgreichen Kampf wird die Waffe dann zum Symbol der Überlegenheit. Doch wer und warum solche Keulen im Alltag bei sich trug oder wem sie bei der Bestattung als symbolische Beigabe zustanden, bleibt offen. Immerhin finden wir Keulenköpfe aus Stein regulär als Teile von Grabausstattungen linearbandkeramischer Bauern und Viehzüchter. Die Gräber mittelsteinzeitlicher Wildbeuter sind wiederum zu selten archäologisch ausgegraben worden, als dass wir über deren Ausstattung hinreichend informiert wären.

Mit den sanduhrförmig durchlochten Keulen steht die Typenentwicklung steinerner Keulenköpfe erst am Anfang. Die auf die Linearbandkeramik folgenden Bauernkulturen verwendeten Keulenköpfe unterschiedlichster Form. Sehr wahrscheinlich spiegelt dieses Phänomen so etwas wie ein „Grundrauschen der Gewalt“ innerhalb der und zwischen den Kulturen wider. Spuren dieser Gewalt finden wir zunehmend durch moderne archäologische Ausgrabungen, meist in Gräberfeldern oder bei nicht regulär bestatteten Toten: es sind Spuren stumpfer Gewalt an Schädeln, eingeschossene Projektile aus Knochen und Stein, gebrochene Gliedmaßen, die als Hinweise auf Gewalt zwischen Menschengruppen verstanden werden müssen.

Das Keulenbruchstück aus Bussin, verlorengegangen vor mehr als 7.000 Jahren, führt uns an eine wichtige Frage menschlicher Kultur. Ist die Gewalt in der menschlichen Gesellschaft auch historisch schon immer oder zumindest schon sehr früh existent gewesen? Archäologie, Ethnologie, Verhaltens- und Sozialforschung bieten viele, z. T. überraschende, aber auch ernüchternde Antworten. Deshalb vielleicht ist der Bussiner Fund auch ein Stein des Anstoßes, einmal selbst über unser persönliches Verhältnis zu Konflikten, zur Gewaltbereitschaft oder zur Aggression gegen andere nachzudenken.

Dr. C. Michael Schirren

Literatur

  • Eric Biermann, Gewalt und Aggression in Alt- und Mittelneolithikum. Keulenköpfe und Äxte als Indikator für Krieg, Prestige und Gruppenidentität. In: Thomas Link und Heidi Peter-Röcher (Hrsg.), Gewalt und Gesellschaft. Dimensionen der Gewalt in ur- und frühgeschichtlicher Zeit. Internationale Tagung an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg 14. – 16. März 2013. Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie Band 259 (Aus dem Lehrstuhl für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie der Universität Würzburg), Bonn 2014, 237-246.
  • Harald Meller und Michael Schefzik (Hrsg.), Krieg. Eine archäologische Spurensuche. Begleitband zur Sonderausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale). Halle (Saale) 2015.
  • Thomas Terberger, Gewalt bei prähistorischen Wildbeutern Mitteleuropas? Ein Diskussionsbeitrag. In: Jürgen Piek und Thomas Terberger (Hrsg.), Frühe Spuren der Gewalt – Schädelverletzungen und Wundversorgung an prähistorischen Menschenresten aus interdisziplinärer Sicht. Workshop in Rostock-Warnemünde vom 28. – 30. November 2003. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mecklenburg-Vorpommerns 41, Schwerin 2006, 129-154.

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